Von Eva-Maria Tepest

Alice Weidel wurde erstmalig in der Talkshow „Maischberger“ im März mit der Frage konfrontiert, inwiefern „das geht“: ihr Leben als Frau, die mit ihrer Partnerin zwei gemeinsame Kinder großzieht, und ihre Arbeit in der AfD, die im Wahlkampf das „Ja zu Vater, Mutter, Kind“ propagiert. Sie findet, „das geht“. In ihrer Antwort reiht sie zaghafte Halbsätze aneinander, sagt etwa, dass es nur um unterschiedliche Namen für irgendwie auch unterschiedliche Dinge gehe (Ehe für Mann und Frau, eingetragene Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paare) und ihr Leben sowieso gar nichts mit ihrer Parteizugehörigkeit zu tun habe: „Es geht letztendlich um die Trennung von Privatem und der Politik.“

Alice Weidel ©Wikimedia Commons/MAGISTER/CC BY-SA 3.0 de

Die frisch gewählte AfD-Spitzenkandidatin, die auf dem Kölner Parteitag prompt hetzte, die Political Correctness gehöre auf die „Müllhalde der Geschichte“, ist nur eine Verkörperung dessen, was auch bei genauerem Hinsehen zunächst unvereinbar scheint: Die Entscheidung für eine Partei, die das eigene Lebensmodell nicht nur entrechtet, sondern die in einem Feldzug gegen alles Uneindeutige, Schwache, den Volkskörper gefährdende folgerichtig Frauen- und Homofeindlichkeit propagiert. Und die in femo- und homonationalistischer Manier den Islam allein für den Frauen- und Homohass verantwortlich macht, den sie selbst propagiert.

Weidels Exparteikollege und ehemaliger Sprecher der Bundesinteressengemeinschaft Homosexuelle in der AfD Mirko Welsch findet die AfD „nicht schwulenfeindlich„, obwohl sie mal in Thüringen homo-, bi- und transsexuelle Menschen zählen lassen will, mal gegen „Gender Mainstreaming“ als Geisteskrankheit hetzt und sich immerzu um die demografische Entwicklung des deutschen Volkskörpers sorgt. Die Teilnehmenden der Wahlveranstaltung „Gays for Trump“, bei der sich der niederländische Rechtsextreme Geert Wilders und Miro Yiannopoulos, Posterboy der US-amerikanischen „Alt-right“ (bis zu seiner Aussage, Sex mit Minderjährigen, das gehe), die Hand gaben, beschrieb Laurie Penny als „jammernde Armee von Trollen“: „Genau wie Trump und viele erfolgreiche Politiker*innen in diesem postmodernen Zirkus kanalisieren sie ihren eigenen Narzissmus, um der wortlosen, formlosen Wut der vom Neoliberalismus auf der Strecke gebliebenen Menschen eine Stimme zu geben. Sie eröffnen neue Gewinnchancen für die erniedrigten Massen. Welcome to the scream room.“

In Frankreich wählten bei den Regionalwahlen 2015 in Paris 32 Prozent der homosexuellen verheirateten Paare rechts und lagen damit vor den verheirateten Heteropaaren (die zu 30 Prozent Front National wählten). Marine LePen, die mehr schwule enge Berater hat als irgendein*e andere*r Spitzenpolitiker*in Frankreichs, nutzte die Attacke von Orlando für die Feststellung, wie stark weiße Homosexuelle vom Islam bedroht seien. Dass zu den Opfern von Orlando überwiegend latinx, Schwarze Queers und trans Personen gehörten, wird dabei ausgeblendet.

Wie können wir den Spalt begreifen, der bei Weidel und Co. zwischen ihrer sexuellen Identität einerseits und ihren politischen Positionierungen andererseits klafft? Warum führt die mutmaßliche Verwundbarkeit (als Homosexuelle, als Frau) Alice Weidel nicht zur Solidarisierung als Teil eines sozialen Kampfes, sondern stattdessen geradewegs in die antifeministische Hölle?

Wir leben in Zeiten, in denen jeder einfache Schluss auf die politische Position qua Identität nach hinten losgeht. Das bedeutet nicht, dass beide in keinerlei Zusammenhang stehen, das bedeutet nur, dass dieser weitaus komplexer und bedenkenswerter ist, als wir uns manchmal ausmalen können. Der französische Soziologe Didier Eribon beschrieb in seinem viel rezipierten Buch „Rückkehr nach Reims“, dass Solidarität nur möglich wird durch eine Bewegung, in der wir alle versuchen, von der kurzfristigen Befriedigung fehlgeleiteter Einzelinteressen abzusehen. Stattdessen müssten wir Mitgefühl und Kampfbereitschaft für diejenigen entwickeln, die systematisch (sozial) unterdrückt, (wirtschaftlich) ausgebeutet und (ideologisch) geächtet werden. Diese Überwindung der separaten, seriellen Identität machte laut Eribon den Kernzusammenhalt der französischen Linken aus: So waren französische Arbeiter*innen und andere gesellschaftliche Gruppen zwar (auch) schon immer rassistisch, sexistisch, homofeindlich. Sie wählten aber trotzdem links und behielten ihren Hass größtenteils für sich. Mit der neoliberalen Aufgabe des sozialen Kampfbegriffes wurde diese Allianz gesprengt. Die Pandora-Büchse von Vorurteilen, Eigenliebe und Abstiegsangst wurde geöffnet und der Weg frei gemacht für den Neofaschismus des FN: „Die entfremdete Weltanschauung (den Ausländern die Schuld geben) verdrängt den politischen Begriff (gegen die Herrschaft ankämpfen).“

Was er in Bezug auf die französische Linke beschreibt, hat globalere Implikationen. Ebenso wie der FN veranschaulicht die AfD die Konstitution eines Kollektivs, in dem es nur mehr um entfremdete Einzelinteressen geht. Eines Kollektivs, in dem einige Homosexuelle die AfD unterstützen und wählen, weil die sie vor islamistischem Terror und Geflüchteten schützen soll, und Teile des Kleinbürgertums und der ehemals organisierten Arbeiter*innenschaft hoffen, dass ihr radikal neoliberales Programm sie vor dem wirtschaftlichen Absturz bewahrt. Eines Kollektivs, das zwar von angry white men dominiert wird (wie die letzten Wahlstatistiken aus Mecklenburg-Vorpommern und Berlin verdeutlichen), aber auch vermeintliche Widersprüche nicht nur aushält, sondern braucht. Weil es nicht auf der Herstellung von gesellschaftlicher und individueller Ganzheit, der Überwindung von Grenzen beruht, sondern auf Fragmentierung und Hass. Wenn dann eine lesbische Politikerin Privates privat sein lassen will und in ihrer Fremden- und Islamfeindlichkeit noch ein paar Homosexuelle mitreißt: umso besser.

Folglich ist das Aufschlussreichste an Weidels „Maischberger“-Auftritt ihre Forderung nach der Trennung von Privatem und Politik: „Familienpolitische Sprecherin werde ich bestimmt nie werden“, erläutert sie und will dann lieber über wirtschaftspolitische Themen reden, denn dafür sei sie ja da. Die promovierte Volkswirtin gibt an, Euro-Krise und Griechenlandkredite hätten sie im Gründungsjahr der AfD 2013 zur Politik gebracht. Ihre Position in Wirtschaftsfragen – sie fordert die Abschaffung des Euro und die Einführung der „D-Mark 2.0“ per Volksentscheid – wird oft als liberal bezeichnet. Dabei ist ihre Gesinnung durch und durch völkisch-national: Auf ihrer Facebook-Seite hetzt sie im Oktober: „Ganz Deutschland ist dank Angela Merkel zum kriminellen Hotspot geworden.“ Als Frau fürchtet sie sich, nicht mehr die letzte S-Bahn nehmen zu können. Und auf dem AfD-Parteitag warf sie der Bundesregierung die Aufgabe des Vaterlands durch eine unkontrollierte Massenmigration vor.

Weidel stammt aus Mittelschichtsverhältnissen, promovierte mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung und arbeitete danach bei Goldman Sachs und Allianz Global Investors. Sie arbeitete sechs Jahre in China, bevor sie sich als Unternehmensberaterin selbstständig machte und an den Bodensee zog. Weiß und reich kann sie sich den Luxus leisten, ihre sexuelle Identität unproblematisch zu finden, ist privilegiert genug, sie ins „Private“ zu verbannen.

Solidarität als Überwindung von Einzelinteressen ergibt sich nicht automatisch aus der Zuschreibung einer Gruppenzugehörigkeit (etwa: Lesbe wählt [queer-]feministisch, oder zumindest liberal), sie muss immer wieder erkämpft, den eigenen Privilegien abgerungen werden. Sonst bleibt es bei neoliberaler Rhetorik, völkischem Fremdenhass und Weiblichkeitsabwehr. Sonst wird eine blonde große Unternehmensberaterin aus gutem Hause auf ihrem Weg vom Konrad-Adenauer-Stipendium zum Haus am Bodensee sich nie mit einer marginalisierten Community solidarisieren, deren Zugehörigkeit ihr voreilig unterstellt wird. Weil sie keine Gemeinsamkeit entwickeln will mit Queers of Colour, trans Personen, wirtschaftlich Abgehängten. Weil sie vergisst, welche solidarischen Kämpfe weltweit es ihr überhaupt erst ermöglichten, als Frau ihr eigenes Geld zu verdienen, ein politisches Amt zu bekleiden und straffrei homosexuell zu leben. So düster die Lage sich aktuell auch darstellt: Wir dürfen nicht vergessen, wie systematisch alle Menschen (wenn auch in entscheidend unterschiedlichem Maße) in letzter Konsequenz vom neoliberalen, rassistischen, antisemitischen und antifeministischen Programm der AfD entmenschlicht werden. Wir müssen Solidarität produzieren. Das solidarische Band ist brüchig, aber nicht obsolet.

Weidels „Maischberger“-Auftritt ist das Ergebnis eines Systems, in dem jeder Gedanke über, jeder Affekt hin zu Solidarität erstickt wird, in dem der immer auch emotionale und kollektive Gesamtzusammenhang zum Privat/politisch-Gegensatz entstellt wird, in dem ein Mensch die eigene Lebensentscheidung in ein Stammeln überführt: kein Triumph, kein Sieg. Und das wäre eigentlich todtraurig, wenn es nicht so gefährlich wäre.