Von Jana Sotzko

Es gibt eine frühe Szene in Anke Stellings neuem Buch „Fürsorge“, die an ihren 2015 erschienenen Roman „Bodentiefe Fenster“ erinnert: Bei einem Pärchen-Abend entfaltet sich die ganze innere Einsamkeit von Erzählerin Gesche, die schwanger ist mit dem dritten Kind und sich am Esstisch der asketischen Tänzerin Nadja und deren drogenabhängigem Freund in Gedanken verliert. Mutterschaft, Überforderung und das Scheitern eines verklärt-romantischen Entwurfs von gerechtem Zusammenleben waren Themen von „Bodentiefe Fenster“, einem Abgesang auf die Prenzlauer-Berg-Bohème, die der Alltag zwischen Wohnprojektplena und Kinderladen auch nicht vor der Depression bewahrt.

© Nane Diehl

„Fürsorge“ fügt der ganzen Trostlosigkeit eine Dimension hinzu, die den Roman ungleich drastischer werden lässt: Nadja beginnt bei einer Reise in ihre Heimatstadt Leipzig eine sexuelle Beziehung mit ihrem 16-jährigen Sohn Mario. Das Verhältnis wird von Gesche in intimen Details geschildert – und bei allem Entsetzen über die Gefühlskälte des Mutter-Sohn-Gespanns erliegt man beim Lesen Stellings poetischen wie pointierten Bildern einer Obsession mit Körperlichkeit in Abwesenheit anderer Formen zwischenmenschlicher Kommunikation.

Anke Stelling „Fürsorge“
Verbrecher Verlag, 176 S., 19 Euro

Das Jugendzimmer, der Wohnblock, das Fitnessstudio – überall bleiben die Protagonist*innen nur bei sich. Gesches erzählerische Unzuverlässigkeit verhindert, dass die ödipale Beziehung zum reinen Voyeurismus wird, während an Stellings sprachlicher Kunstfertigkeit in diesem faszinierend-verstörendem Buch ohnehin nie Zweifel besteht.