Von Friederike Mehl

Mexiko-Stadt am Rande des Viertels Colonia Doctores: Hier befinden sich die Räume des feministischen Kollektivs Producciones y milagros, das seit 1991 Foto-, Video- und Kunstprojekte entwickelt und die Frauenbewegungen in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern dokumentiert. Gegründet wurde das Kollektiv von Rotmi Enciso, die bereits Anfang der 1980er-Jahre feministische und vor allem lesbische Kreise zu dokumentieren begann.

„Ni una más“ („Keine mehr“), Demo vom 8. März 2011 © Producciones y Milagros Agrupación Feminista

Seit 2004 stemmt sie gemeinsam mit Ina Riaskov die tägliche Arbeit. Zusammen mit Aktivist*innen und Interessierten vom Teenie- bis ins Rentenalter entwickeln sie Projekte, bei denen das Material ihres stetig wachsenden Film- und Fotoarchivs eine zentrale Rolle spielt. Neben viel ehrenamtlicher Arbeit finanziert sich das selbstverwaltete Kollektiv durch den Verkauf von Fotos und Grafiken, Workshops, Spenden und sporadische Fördergelder.

Missy-Autorin Friederike Mehl hat Ina Riaskov von Producciones y milagros getroffen, um sich mit ihr über Gedächtnisarbeit, Selbstfürsorge und feministischen Aktivismus in einem Land zu unterhalten, in dem im Schnitt jeden Tag sieben Frauen aus geschlechtsspezifischen Gründen ermordet werden.

Was bezweckt ihr mit eurer Arbeit bei Producciones y milagros?
Ina Riaskov: Radikale bildbasierte Gedächtnisarbeit. Aus aktivistischer Perspektive bedeutet das, die Vergangenheit in die Gegenwart mit hineinzuholen. Darauf basiert unsere Dokumentations- und Archivtätigkeit. Eines unserer Ziele ist, das Archiv über künstlerische Arbeiten in Bezug zum Hier und Jetzt zu stellen. Dass es nicht bei der Fotografie bleibt, sondern dass sich die Fotografie oder das Video wieder in ein anderes Medium verwandelt und in Form einer Grafik, einer Malerei, eines Drucks erneut in den Bewegungskontext zurückfließt.

„El eje del mal es heterosexual“ („Die Achse des Bösen ist heterosexuell“), Mexiko-Stadt 2014 © Producciones y Milagros Agrupación Feminista

Welche Themen beschäftigen euch hauptsächlich?
Abtreibung ist ein wichtiges Thema, ebenso Gewalt gegen Frauen. Als Unterthemen zu Gewalt gegen Frauen arbeiten wir zu gewalttätigem Verschwindenlassen, sexuellen Übergriffen im öffentlichen Raum und Feminizid. Kunst innerhalb von feministischer Aktion ist ein weiteres Thema und der Schwerpunkt lesbisch-feministische Aktion spielt überall eine Rolle. Was sich auch widerspiegelt, ist indigener Feminismus bzw. Frauen* in sozialen indigenen Bewegungen.

Kannst du einige Beispiele für eure aktivistische Arbeit nennen?
Wir arbeiten Fotos als Grafik auf, zum Wheatpasten auf der Straße. Wir projizieren außerdem Bilder aus dem Archiv im öffentlichen Raum oder machen Stickeraktionen. Vieles von dem, was wir auf die Straße tragen, endet an Hauswänden als Streetart oder taucht bei Aktionen und Demos auf. Manchmal sehen wir dort unsere Bilder, die die Leute zu Hause ausgedruckt haben. Da wir viel Material im Netz hochladen, ist das ganz einfach.

© Producciones y Milagros Agrupación Feminista

Wie bringt ihr Aktivismus, Erwerbs- und Archivarbeit unter einen Hut?
Heute Morgen habe ich Bilder hochgeladen von der Aktion zu den verbrannten, ermordeten Mädchen in Guatemala und dabei festgestellt, was allein in den letzten neun Monaten passiert ist an Protest und Widerstand. Ich habe zig Ordner auf meinem Computer mit Fotos, die noch nicht upgeloadet sind, weil wir keine Zeit dazu hatten. Das ist immer so: Entweder ist auf der Straße gerade Wichtigeres los oder es gibt eine Phase von bezahlten Aufträgen. Dann fällt die Archivarbeit unter den Tisch.

Gibt es in Mexiko eine Frauenbewegung im Sinne einer Massenbewegung?
Da gibt es verschiedene Ansichten. Wenn ich es mit dem vergleiche, was ich aus Deutschland kenne, dann würde ich sagen: Ja. In Mexiko-Stadt habe ich am 24. April 2016 eine Massenbewegung auf der Straße gesehen. Damals gingen allein in der Großstadtregion über zehntausend Menschen gegen sexistische Gewalt auf die Straße – natürlich auch in einem Kontext, der einfach untragbar ist. Tagtäglich werden Frauen vergewaltigt, ermordet, sexuell missbraucht und verschwinden gelassen, und das in einem unfassbaren Ausmaß.

Feministischer Block bei der Demo für die Verschwundengelassenen von Ayotzinapa 2015 © Producciones y Milagros Agrupación Feminista

Was bedeutet feministischer Aktivismus in einem Land mit derart stark ausgeprägten gesellschaftliche Unterschieden, sei es zwischen arm und reich, Stadt und Land, weiß und of Color oder indigen? Wie geht ihr mit diesen vielfältigen Unterschieden um?
Wir versuchen, möglichst empathisch in die Kreise reinzugehen, mit denen wir zusammenarbeiten. Ich lebe seit 13 Jahren als privilegierte Deutsche in Mexiko. Für mich ist es eine tägliche Dekonstruktion eines Privilegs einer weißen Deutschen mit einem deutschen, also einem EU-Pass. Meine Arbeits- und Lebenspartnerin ist in Mexiko-Stadt aufgewachsen und wird von ihrer äußeren Erscheinung her oft als indigen gelesen. Wir thematisieren das für uns. Und wir thematisieren natürlich Mexikos koloniale und rassistische Strukturen in unserer alltäglichen Fotoarbeit.

Ihr wohnt direkt neben dem Archiv. Gibt es einen Rückzugsraum jenseits eurer Arbeit?
Es ist schwierig, Privates und Arbeit voneinander zu trennen, wenn du so arbeitest wie wir, mit sehr unregelmäßigen Arbeitszeiten. Das freie Arbeiten wird durchkreuzt von Aktivismus. Dadurch fällt die Planung sehr schwer. Dann habe ich oft keine Zeit, weil wir schon dabei sind, die nächste Aktion vorzubereiten.

Demo-Aktion „Bis wir sie finden“ im April 2015 in Mexiko-Stadt © Producciones y Milagros Agrupación Feminista

Wie schafft ihr es, täglich zu Themen zu arbeiten, die so hart und Angst einflößend sind?
Na ja. Du sitzt vor dem Computer, wie ich gestern, und bearbeitest Bilder. Dann kommt ein simples Foto von einer jungen Frau mit ihrer kleinen Tochter. Und dann kannst du erst einmal eine Stunde lang nichts als heulen. Mittlerweile ist es schon besser. 2009 wurde hier in der Nähe eine junge Lesbe von zwei Brüdern vergewaltigt. Einer von ihnen wollte sie erstechen. Sie verletzte ihn im Kampf so stark, dass er verblutete. Die Frau wurde sofort vom Opfer zur Täterin gemacht. Das war ein Fall, in den wir ein paar Monate lang stark involviert waren, mit Aktionen auf der Straße, auf allen Ebenen. Das hat mich sehr mitgenommen.
Auch hier ist „auto-cuidado“, also „self-care“, in feministischen Kreisen ein großes Thema. Ich bin fest davon überzeugt, dass es nicht ohne geht. Es ist schwer, die Balance zu finden. Unser Ausgleich ist die künstlerische Arbeit. Das ist für uns Selbstfürsorge. Kreatives Arbeiten ist heilend.