It’s bigger than Identitätspolitik
Von
Von Shaheen Wacker
Ich wurde neulich darum gebeten, einen Kommentar zum Thema Black Lives Matter und mit aktuellem Bezug auf die Demo in Berlin zu schreiben – aus der Perspektive einer queeren Schwarzen Frau. Dabei sollte ich aber möglichst nicht zu spezifisch auf die Themen eingehen, die mich als queere Schwarze Frau in Berlin aktuell bewegen. Das ist bezeichnend für die Herausforderung, vor die ich mich gestellt sehe, wenn ich daran denke, was Black Lives Matter als politische Bewegung in ihrem Kern ausmacht und mit welchen Projektionen diese Bewegung gleichzeitig von allen Seiten beworfen wird.
Anscheinend hat man mitbekommen, dass Schwarzsein und Frausein und Queersein irgendwas mit der Sache zu tun haben. Am besten alles gleichzeitig, das klingt interessant und neu. Aber bitte nicht zu kompliziert werden. Das Ganze muss ja noch irgendwo eingeordnet werden können, sonst versteht es doch niemand. Sonst müssten Dinge, die wir als gegeben betrachten, eventuell neu überdacht, vielleicht sogar verworfen werden und das wollen wir doch nicht, oder?
Die Leidkultur (kein Tippfehler) hat uns beigebracht, dass alles einen Platz und einen Namen haben muss. Dinge, die keinen Namen haben, existieren nicht. Menschen, die sich nicht kategorisieren lassen, dürfen nicht existieren. Jedenfalls nicht in der Weise, in der sie es tun, und unter dieser Annahme leiden alle, die nicht in das Weltbild der dominanten Kultur passen.
Vielleicht sind wir gerade noch nicht an dem Punkt, an dem wir uns eine Gesellschaft ohne Kategorisierungen vorstellen können. Soweit ich denken kann, wäre das auch nicht notwendig, denn es sind nicht die Kategorien, die Diskriminierung hervorrufen. Vielmehr ist es die Dominanz, mit der Kategorien gewaltvoll produziert, bewertet oder entwertet und dann als Grundlage für Diskriminierungen missbraucht werden.
Wir alle lernen schon in frühester Kindheit, wie wir die Welt zu sehen haben. Für die, die als anders betrachtet werden, ist das mit sehr schmerzhaften Erfahrungen verbunden. Viele dieser Situationen, in denen mir gesagt oder gezeigt wurde, was ich bin, nicht bin, was ich nicht sein kann, sind so verletzend gewesen, dass ich sie aus meiner Erinnerung verbannt habe. Aber für die Situationen, die immer wiederkehren, mit denen ich alltäglich leben muss, habe ich Methoden entwickelt. Ich habe gelernt, Widerstand zu leisten, damit ich überleben kann. Damit ich Ich-Selbst sein kann – so wie ich bin.
Wenn ich sage BLACK LIVES MATTER, dann wehre ich mich gegen die Fremdbestimmung und gegen die Dominanz einer weißen Vorherrschaft (White Supremacy), die Schwarzsein kategorisch mit Minderwertigkeit gleichsetzt und für die Schwarze Leben weniger Priorität hat.
Mit Rückblick auf die Geschichte und die Gegenwart der Gewalt, die wir erfahren, denke ich hierbei aber genauso an lesbische und schwule und bisexuelle und trans und queere und femme und butch und beHinderte und illegalisierte Leben. Ich denke an die Leben von „People of Color“ – von Menschen, die trotz ihrer Einzigartigkeit und Diversität kategorisch unter einem Begriff zusammengefasst werden, damit zumindest ihre gemeinsame Realität als „die Anderen“ in irgendeiner Weise sprachlich benannt werden kann – und ich denke an alle Leben entlang des Genderspektrums, alle Leben irgendwo im Dazwischen, die keine Kategorie oder keinen anerkannten Platz in dieser Gesellschaft haben.
Mein Leben ist eins von diesen Leben und meine Existenz ist verbunden mit allen Anderen. Der Begriff, der in der genannten Aufzählung wohl am meisten auf mich zutrifft, ist das „und“. Denn unsere Lebensrealitäten sind nicht akademisch, nicht kategorisierbar und im Grunde wissen wir das. Intersektionalität war schon immer eine Lebensrealität fernab von Sprache und Begrifflichkeiten. Machtkritisches, antidiskriminierendes Handeln entspricht daher einer Denkweise, die nicht allein im akademischen Raum gedacht werden kann.
Lange bevor es Begriffe wie Intersektionalität in Büchern und an Universitäten gab, gab es Denkweisen und Handlungen, die sich namenlos aus den alltäglichen Erfahrungen der Menschen entwickelt haben, für die sie überlebensnotwendig waren und sind. Critical Whiteness ist eine davon, Identitätspolitik eine andere.
Identitätspolitik wurde als Methode, im feministischen und LGBT und antirassistischen Befreiungskampf gesellschaftlicher Gruppen der 1960ern und 1970ern entwickelt. Aus kollektiven Reaktionen auf Rassismus und Sexismus und Homo- und Transfeindlichkeit innerhalb der Gesamtgesellschaft – als politische Praxis der Wiederaneignung negativ besetzter Kategorisierungen.
Fremdbestimmte Kategorien wurden als eigene Identitäten zurückerobert und positiv besetzt, um gegen die Unterdrückung der eigenen Perspektiven vorzugehen. Daraus entwickelte Grundgedanken waren Black Power oder Gay Pride, die in den folgenden Generationen z. B. in der HipHop- oder Voguing-Kultur ihren Ausdruck fanden.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die all diese Bewegungen miteinander gemeinsam hatten – seien sie noch so verschieden, zeitlich und räumlich voneinander getrennt gewesen –, war, dass strukturelle Unterdrückung kollektive Erfahrungen erzeugt. Generationen später baut auch Black Lives Matter auf dieser Erkenntnis auf.
„Wir stehen hier gemeinsam als eine diverse Gruppe von Black, queer, trans* und latinX Menschen of Color. Einige von uns kommen aus verschiedenen Orten aus der Diaspora und einige von uns sind aus Deutschland. Aber egal woher wir sind, wir sind über unser Schwarzsein verbunden. Black Lives Matter.“
– Semhar Ghide, Redebeitrag beim Black Lives Matter Protest Marsch 2016, in Berlin
White Supremacy hat nicht nur in den USA, sondern weltweit eine gesellschaftliche Gruppe geschaffen, die sich aufgrund ihrer Rassismuserfahrungen selbst als „Schwarz“ identifiziert.
Diesen Prozess beschreibt auch das unvollendete Manuskript des Schwarzen und schwulen US-amerikanischen Schriftstellers James Baldwin „Remember This House“, das Raoul Peck 2016 als Vorlage für den Dokumentarfilm „I’m not your Negro“ diente.
„Remember This House“ ist eine schonungslose Analyse der rassistischen US-amerikanischen Gesellschaft und ihrer Geschichte. Baldwins Schlussfolgerung: Rassismus ist eine Erfindung der Weißen. Geboren aus dem Bedürfnis, sich „einen Schwarzen“ zu erschaffen, einen „Negro“, wie es damals im besten Falle hieß – ein Objekt, das alle Eigenschaften in sich vereinte, von denen Weißsein somit abgegrenzt werden konnte. Der Filmtitel „I’m not your Negro“ markiert den Widerstand, der von James Baldwin und den Aktivist*innen seiner Zeit ausging. Der Film selbst macht die Wut dahinter spürbar, die zugleich Quelle und Antrieb für ihr Handeln war.
Die Errungenschaften der 1960er und 1970er zeigen: Geteilte Erfahrungen und Identitäten einer unterdrückten gesellschaftlichen Gruppe können als Grundlage einer sozialen Bewegung genutzt werden, die deren Befreiung zum Ziel hat.
Bis heute schöpfen Bewegungen wie Black Lives Matter aus derselben Quelle. Sie streben ihre Befreiung an, indem sie kontinuierlich daran arbeiten, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu fördern, das individuelle Diskriminierungserfahrungen nicht als isolierte Einzelschicksale wahrnimmt, sondern als grundlegende Komponente einer gesamtgesellschaftlichen strukturellen Unterdrückung. Auch das Programm des BLM Monats, das unser feministisches Frauenkollektiv diesen Monat in Berlin organisiert, dient u. a. diesem Zweck.
Alicia Graza, Patrisse Kahn-Cullors und Opal Tometi – drei queere, Schwarze Frauen – legten 2013 in den USA den Grundstein für Black Lives Matter. Das Engagement der Gründerinnen ist geprägt von intersektionalen Kämpfen und einem unbeugsamen Drang nach Veränderung. Zwar ist Schwarzsein der gemeinsame Nenner, unter dem sich die Menschen bei Black Lives Matter zusammenfinden, austauschen und Widerstand leisten, jedoch unterscheidet sich die Bewegung in ihrer Politik vor allem dadurch von Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegungen der Vergangenheit, dass sowohl Rassismus und White Supremacy als auch dem Patriarchat als auch Kapitalismus und Heteronormativität gleichermaßen der Kampf angesagt wird.
Dieser Gedanke, der bereits im Manifest des Bostener Combahee River Collective 1977 veröffentlicht worden war, bildete auch das Fundament ihrer intersektionalen Praxis:
„Die Zahnräder des unterdrückenden Systems greifen ineinander und das Zusammenspiel dieser Unterdrückungsmechanismen produziert die Bedingungen unserer Leben. Aus diesem Grund richtet sich unser Kampf vielfältig und gleichzeitig gegen jegliche Form von Unterdrückung, von denen alle Frauen* of Color betroffen sind. (…) Statt nur an einer Front gegen Rassismus zu kämpfen, kämpfen wir an allen Fronten gegen Unterdrückung.“
Seit den 1970ern hat sich diese Idee zu dem entwickelt, was wir heute intersektionale Theorie nennen. Und als die „Schwarze, Lesbe, Mutter, Kriegerin und Poetin“ Audre Lorde 1984 als Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin erstmals Schwarzen deutschen Studentinnen begegnete und mit ihnen über Identität und kollektive Erfahrungen als Schwarze Frauen sprach, gab sie diese Idee an sie weiter.
Diese Frauen, die sich plötzlich auf einer Ebene miteinander austauschen konnten, entwickelten ein politisches Verständnis, das ihnen half, ihre individuelle Lebensrealität als eine kollektive Realität zu begreifen. Sie entwickelten eine positiv besetzte Gruppenidentität, die es ihnen ermöglichte, zu verlernen, was sie angeblich waren, und Projektionen von außen abzuwehren, die ihnen zuvor durch strukturelle Unterdrückung eingeredet worden waren. Sie gaben sich selbst einen Namen: Afrodeutsche, Schwarze Deutsche und sie schrieben ein Buch, „Farbe bekennen“, das ihre Perspektiven reflektierte und für nachfolgende Generationen dokumentiere.
Identitätspolitik war und ist notwendig, nicht nur, weil sie dazu dient, die mentale Gesundheit von unterdrückten Menschen zu stärken, sondern weil sie einen notwendigen Faktor für die Entwicklung von Selbstbewusstsein, Selbstwert und Handlungsfähigkeit darstellt, die diese Menschen brauchen, um sich selbst von ihrer Unterdrückung befreien zu können. Aber Identitätspolitik ist längst nicht alles.
Denn erst durch die praktische Anwendung intersektionaler Theorie war es z. B. weißen Feminist*innen möglich, im Austausch und in Gesprächen durch Schnittmengen mit den Diskriminierungserfahrungen ihrer Schwestern auch ihre eigenen Erfahrungen im Rahmen einer intersektionalen Perspektive neu zu analysieren und ein neues Bewusstsein für einen gemeinsamen Befreiungskampf zu entwickeln.
Es war eine lesbische, weiße Feministin names Dagmar Schultz – Autorin, Verlegerin und Filmemacherin –, die Audre Lorde 1980 auf der Weltfrauenkonferenz in Kopenhagen kennenlernte und sie einlud, ans Berliner John F. Kennedy Institut zu kommen, wo sie damals selbst tätig war. Dagmar Schultz dokumentierte die Berliner Jahre ihrer Freundin Audre im gleichnamigen Film und unterstützte die Veröffentlichung des Buchs „Farbe bekennen“ mit ihren Ressourcen als Verlegerin.
Wir können uns nur selbst befreien. Das schließt nicht aus, dass Menschen außerhalb einer spezifischen unterdrückten Gruppe oder Kategorie nicht auch eine positive Rolle in einem kollektiven Befreiungskampf besetzen können. Vielmehr ist es wichtig anzuerkennen, dass jede von Unterdrückung betroffene Person im Zentrum des eigenen Befreiungskampfes steht und als Teil eines Kollektivs sowohl die Unterstützung der Anderen erfährt, als auch die eigenen Ressourcen und Privilegien einsetzen kann, um wiederum Andere zu empowern.
Identitätspolitik ist nicht zielführend ohne ein grundsätzliches Verständnis dafür, was Intersektionalität als kollektive Ressource bedeutet. Denn Intersektionalität bildet ein Netzwerk von ineinander verknüpften Erfahrungen, die Schnittmengen bilden und einander mit Lösungsansätzen bereichern. Je mehr die machtkritischen Blicke in ihren Perspektiven variieren, desto präziser ist ihre gemeinsame Analyse, desto handlungsfähiger ihre kollektive Kraft.
„If you’ve come to help me, you’re wasting your time. But if you’ve come because your liberation is bound up with mine, then let us work together.“
Diese Worte der australischen Aborigine-Aktivistin Lila Watson werden oft zitiert, denn sie machen deutlich, dass Solidarität intersektional gedacht werden muss und erst dadurch zum selbstverständlichen Bestandteil einer machtkritischen, antidiskriminierenden Praxis wird. In einer Rede, die Lila Watson 1985 bei einer Konferenz der UN Dekade für Frauen in Nairobi hielt, wies sie allerdings darauf hin, dass sie sich unwohl damit fühle, persönlich für einen Gedanken gelobt zu werden, der aus einem kollektiven Prozess erwachsen sei. Sie möchte, dass als Quelle stattdessen die „Aboriginal Activists Group, Queensland, 1970s“ genannt wird. Wir werden wahrscheinlich nie herausfinden, wo und wann und in welchem Kopf dieser Gedanke zum ersten Mal gedacht wurde, wichtig ist aber vor allem, dass wir ihn in der Gegenwart praktisch anzuwenden wissen.