Von Sabine Rohlf

Die eine Liebe, um die es in diesem Film geht, sehen wir in der ersten Szene: Tali Tiller und ihre Großmutter Silvia, die Köpfe nah beieinander. Eine junge und eine sehr alte Frau. Silvia wurde in Polen geboren und überlebte als Einzige ihrer Familie den Holocaust. Der Film folgt den Spuren ihrer Gefangenschaft im Ghetto von Lodz. Und zwar mithilfe ihrer Stimme: Die Tonaufnahmen dessen, was sie Tali in den letzten Jahren ihres Lebens erzählte, sind ein wichtiges, ja vielleicht das wichtigste Element des Films.

„The ghosts of the past are among us, captured in the buildings“ © Tali Tiller

Die andere Liebe heißt Magda. Sie ist Filmemacherin wie Tali, die beiden sind ein Paar. Anders als Tali, die aus Israel stammt und in Berlin lebt, wuchs Magda in Polen und Deutschland auf. Der Film zeigt sie mit Tali in Lodz: auf Straßen, die zum Ghetto gehörten, auf dem Jüdischen Friedhof, in Imbissen, einer Straßenbahn und einem Hotelzimmer, wir sehen ihre Vertrautheit und Nähe. Magda übersetzt, begleitet Tali bei der Suche von Häusern und Grabsteinen, trägt ihre Gedanken und Perspektiven bei, stellt Fragen. Als Bildregisseurin gestaltete sie den Film auch mit, wie zwei Kamerafrauen, die mit ihr und Tali in Lodz unterwegs waren. Es war ein kleines Frauenteam.

„My Two Polish Loves“ ist ein Dokumentarfilm darüber, wie die Enkelin einer Holocaust-Überlebenden mit der Vergangenheit umgeht. Die Gegenwart ihrer Generation – zwei Frauen, die sich lieben – wirkt gerade in ihren queeren Signalen unspektakulär, ja alltäglich. Es sind vertraute Bilder, auch wenn klar ist, dass sie nicht überall selbstverständlich sind. Und sie stehen in einer deutlichen Spannung zu den Schrecken und dem Schmerz, auf deren Spuren sich die beiden bewegen und die sie auf unterschiedliche Art betreffen.

Der Film thematisiert die deutsche Besetzung Polens, die nationalsozialistische Gewalt gegen Jüd*innen, die Lebensbedingungen im Ghetto von Lodz, das Sterben, die Deportationen in die Vernichtungslager nicht mit historischen Daten oder Rückblicken. Stattdessen gibt es Bruchstücke, Erinnerungen der Großmutter, Geschichten, die sie erzählte. Manchmal auch die ihres Mannes, des Großvaters, ebenfalls ein Überlebender. Es gibt Silvias Stimme, einige alte Fotos und Filmaufnahmen aus einer Stadt, in der außer Gedenkstätten nur noch wenig von den vergangenen Verbrechen zu sehen ist. Oder doch?

Wir sehen und hören, wie Tali Erinnerungen an Greifbares zu binden versucht. Sie sucht nach Schauplätzen von Leid und Gewalt, nach Spuren der Menschen und ihrer Leben. Wir sehen und hören, wie sie reagiert – wenn sie an einer stark befahrenen Straße versucht, die genaue Stelle zu bestimmen, an der vor über siebzig Jahren ihr Großvater stand, wenn sie das Haus ihrer Großmutter sucht und nicht findet, wenn sie und Magda immer wieder Leute fragen, ob sie den einen polnischen Kinderreim kennen, den sie von ihrer Oma lernte.

Der Film ist ganz dicht bei ihr und gleichzeitig spannt sich ein Bogen in die Vergangenheit, beide Dimensionen sind spürbar, ganz ohne große Worte oder Erklärungen. Natürlich gibt es sorgfältig inszenierte Bilder, die Architektur der Stadt, insbesondere alte Häuser, werden in langen, ruhigen Einstellungen gezeigt, oft mit Musik oder Talis oder Silvias Stimme unterlegt. Aber es gibt auch eher spontan, ja alltäglich wirkende Momente, mit dem Notebook auf dem Hotelbett, mit Piroggen von Plastiktellern und künstlichen Blumen auf einem Restauranttisch.

My Two Polish Loves 2016. R: Tali Tiller. 50,08 Min., in Englisch, Polnisch und Hebräisch.
Am Samstag, 01.07.2017,  wird „My Two Polish Loves“ im FSK in Berlin das erste Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Anschluss findet ein Q&A statt. Weitere Vorführungen stehen noch nicht fest, werden aber im Netz und auf Tali Tillers Website bekannt gegeben.

Wie das alles zusammenkommt und ineinandergreift, ist zugänglich und vielschichtig zugleich. Dieser Film ist eine komplexe künstlerische Arbeit über die Erinnerung an extremes Leid, an Verbrechen, deren Zeug*innen oft nicht mehr leben. Er findet einen Weg, ihrer Vergangenheit in der Gegenwart Raum zu geben. „The ghosts of the past are among us, captured in the buildings“, sagt Tali, sie meint alte Häuser in europäischen Städten. Nach ihrem Film schaut eine sie anders an. Und sie zeigt sehr eindringlich, wie die Erinnerung in Beziehungen, Gedanken und Gesprächen möglich wird. Und in Gefühlen, in Liebe, wie der Filmtitel ja sagt. Nicht als etwas Fixierbares, sondern als ein Tun, beweglich, behutsam und intensiv.