Kämpfen gegen Vorurteile
Von
Von Caren Miesenberger
Thaíz Hottis Polycarpo ist eine Pionierin: In Rio de Janeiro eröffnete die 24-Jährige vor einem Jahr die erste Kampfsporteinrichtung, die auch Selbstverteidigungskurse für LGBTTIQ anbietet. Missy-Autorin Caren Miesenberger besuchte die Judoka und gebürtige Favelada in ihrem Gym CT Tori und sprach mit ihr über ihre Karriere, Sexismus im Kampfsport und Situationen, die die Anwendung ihrer Skills im Alltag erforderten.
Missy: In Ihrem Selbstverteidigungszentrum bieten Sie Kurse für LGBTTIQ an. Wie kam es dazu?
Thaíz Hottis Polycarpo: Wir haben hier ganz normal trainiert, als ein Schüler ankam und sagte, dass er schwul ist und gerne Selbstverteidigung lernen würde. Wir dachten dann: „Wieso sagst du, dass du schwul bist, das ist doch egal?“ Und er sagte: „Wir sind eine Gruppe, die trainieren möchte, aber in manchen Zentren fühlen wir uns nicht wohl.“ Dann haben wir gesagt: „Klar, wir probieren es aus.“ Am Anfang waren es nur zwei, drei Personen. Ein Mitglied begann dann, das Ganze ein bisschen publik zu machen. Seitdem wuchs das Projekt stark. Aber uns war es nie ein Anliegen, ausschließlich als LGBTTIQ-Gym zu gelten. Bei uns sind alle willkommen.
Gab es Vorurteile gegenüber der LGBTTIQ-Gruppe?
Bei uns im Studio trainieren über hundert Kinder, der Großteil zwischen zehn und 15 Jahre alt. Manche der Teilnehmer*innen unserer Kurse fragten mich, ob ich nicht Angst vor Vorurteilen seitens der Mütter dieser Kinder hätte. Aber für mich war klar, dass wir an genau dieser Stelle einhaken und Aufklärungsarbeit leisten müssen.
Trägt diese Aufklärungsarbeit Früchte?
Die Wahrnehmung hat sich komplett geändert. Wir haben ein Treffen mit allen Kindern gemacht, in dem wir erklärten, was der Unterschied zwischen LGBTTIQ und den anderen ist. Da habe ich mich auch vor ihnen als lesbisch geoutet. Mittlerweile wissen sie, dass wir ganz normale Leute sind. Wenn ich heute gerade nicht da bin und eine Person herkommt, um Infos über das LGBTTIQ-Training zu erfragen, wissen die Kinder bereits Bescheid, wie man diese Person behandelt. Sie tragen ihr vorurteilsfreies Wissen sogar an andere Kinder weiter. Das ist super.
Wie lange praktizieren Sie bereits Judo?
Ich bin 24 Jahre alt und trainiere seit zwanzig Jahren Judo (lacht). Ich bin in der Favela Morro dos Prazeres in Rio Comprido aufgewachsen. Für mich war es schwierig, Judo zu trainieren, weil es sehr teuer ist und wenig Fördergelder gibt. Mein Vater musste sich häufig entscheiden, ob das Geld nun für Essen oder das Training ausgegeben wird. All diese Barrieren zu überwinden war ziemlich schwierig: Sport zu studieren, ein eigenes Gym aufzubauen und sich gegen den Sexismus zu wehren.
Wie kam es dazu, dass Sie Ihr eigenes Gym eröffneten?
Ich betreibe das CT Tori gemeinsam mit einem Geschäftspartner, aber bin die Chefin. Die Sapadona, Cheflesbe (lacht). Irgendwann war ich es leid, mich Männern zu unterwerfen. Einmal habe ich ein Training im Stadtzentrum geleitet, als der Besitzer herkam und mir sagte, dass ich unterrichten darf, aber nicht gegen Männer kämpfen soll. Daraufhin habe ich aufgehört, dort zu unterrichten. Meine Schüler*innen sind mir gefolgt und der Chef des Gyms ist allein geblieben (lacht).
Gibt es in der brasilianischen Martial-Arts-Szene viele Gyms, die auf Frauen und LGBTTIQ spezialisiert sind?
Hier in Rio de Janeiro weiß ich von keinem Einzigen außer meinem. Die Reaktionen auf unser Angebot zeigen, dass es auch anderswo fehlt. Auf der Facebook-Seite unseres LGBT-Angebotes kommentieren viele, dass sie sich entsprechende Kurse in ihren Städten wünschen. Wir waren die Ersten, die diese Idee hatten, und sind damit so etwas wie Pionier*innen. Dass das fehlt und es viel Sexismus gibt, habe ich auch ganz stark gemerkt, als ich anfing, selbst zu unterrichten. Es gab Gyms, die mir nicht das gleiche Gehalt zahlen wollten wie den männlichen Trainern. Der Kampfsportbereich ist für Frauen sehr schwierig, und für LGBT noch mehr. Jetzt beginnen sie, sich zu organisieren. Das hilft. Früher war es so, dass man als Frau direkt für eine Lesbe gehalten wurde. Auch das ändert sich so langsam.
Wie zeigt sich der Sexismus noch?
Mehrere Male kommentierten Kämpfer herablassend: „Ahhh, du wirst also unterrichten?“ Ich musste dann erst mal zeigen, dass ich nicht nur gut bin, sondern richtig gut. Manchmal kamen Männer her und sagten: „Ich möchte Judo machen.“ Ich dann so: „Schön, Sie kennenzulernen, ich bin Trainerin.“ Und er: „Du?“ Ich musste im Training die Leute ganz besonders doll hin- und herwerfen, um zu zeigen, dass ich Respekt verdiene. Die sind dann rausgegangen und haben gesagt: „Oh mein Gott, du bist wirklich stark.“ Das ist zusätzliche Arbeit. Wenn ich ein Mann wäre, müsste ich das nicht zeigen.
Mussten Sie Ihre Judokenntnisse schon mal im Alltag anwenden?
Auf jeden Fall. Einmal war ich auf einer Party, als ein Typ mein Handgelenk festhielt und mich nicht losließ. Einer dieser Männer, die ein „Nein“ nicht akzeptieren. Das ging kurz hin und her. Ich sagte: „Ich möchte das nicht, lass mich los!“ und er: „Stell dich nicht so an!“ Ich musste dann seinen Arm umknicken, was ihm wehtat. Er sagte: „Verdammt, das war nicht notwendig!“ Ich dachte: „Du warst nicht notwendig.“ Genau das Gleiche ist mir auch schon mal auf einer Schwulenparty im Nobelviertel Copacabana passiert, auch da musste ich Judo anwenden.
Aber Sie nehmen nicht am Selbstverteidigungsthema für LGBTTIQ teil?
Bisher noch nicht. Ich habe Lust, aber als Chefin bin ich sehr beschäftigt. Sobald sich ein Zeitpunkt ergibt, werde ich auch beim Selbstverteidigungskurs mitmachen, denn Judo kann ich nicht im Alltag anwenden. Wenn mich jemand anpackt, kann ich die Person nicht einfach so umwerfen wie beim Judo. Da ist Selbstverteidigung effektiver. Unsere Krav-Maga-Trainer*innen üben wirklich anhand von Momenten, die mitten auf der Straße passieren können. Da lernt man Schläge in die Weichteile und die richtige Bewegung des Halsgelenks. Beim Judo lerne ich das fürs Training, aber nicht für Konfliktsituationen.
Nehmen Sie auch an Wettkämpfen teil?
Seit fünf Jahren nicht mehr, weil ich Rückenprobleme habe. Daher konzentriere ich mich auf die Kurse, die ich gebe. Weil es so ein teurer Sport ist, war es unmöglich, gleichzeitig die Uni zu finanzieren, zu arbeiten und zu trainieren. Will man auf olympischem Niveau trainieren, geht die komplette Zeit dafür drauf.
Sie sind auf dem Morro dos Prazeres, einer residentiellen Favela in Rio Comprido, aufgewachsen. Ihr Studio ist im Ausgehviertel Lapa. Haben Sie auch schon in Rio Comprido unterrichtet?
Nein, aber da habe ich mich an einigen Projekten beteiligt. Eines Tages möchte ich dort ein Projekt für Kinder auf die Beine stellen, deren Eltern sich den Monatsbeitrag für das Judotraining genau so wenig leisten können wie mein Vater es damals nicht konnte. Dann fühle ich mich selbst verwirklicht.
Vielen Dank für das Gespräch!