Von Paula-Irene Villa

In der aktuellen „EMMA“-Ausgabe vom Juli/August 2017 schreibt der Autor Vojin Saša Vukadinović einen zerreißenden Text über Gender Studies mit dem Titel „Die Sargnägel des Feminismus“. Als Teil des Dossiers „Denkverbote“ harmonierte der Text mit anderen anti-queerfeministischen Texten. „EMMA“ selbst betitelte das umstrittene Dossier als „Ein Dossier über den Psychoterror und die Denkverbote an der #Uni und in der #Queerszene“.

© Paula-Irene Villa

Die Gender-Studies- und Soziologie-Professorin Paula Villa widmete sich Vukadinovićs Artikel und antwortet Abschnitt für Abschnitt. Am 20. Juni postete sie eine erste wütende Replik auf Facebook mit den Worten „(…) Zwischen Fassungslosigkeit, Wut und Selbstzweifel sitze ich an einer Satz-für-Satz-Kritik. Das dauert.“ Diese Satz-für Satz-Kritik findet ihr hier in voller Länge.

Vukadinović: Wer wie ich Anfang der 2000er Jahre an Universitäten in Berlin oder Freiburg das Studium der damals neu eingerichteten Gender Studies aufnahm, befasste sich überwiegend mit Sujets, die der Literaturwissenschaft und der Psychoanalyse entlehnt waren: Wissen über die Wirkung „geschlechtlicher Repräsentationsformen“ sollte, so die mit der Gründung des Fach verbundene Hoffnung, das Bewusstsein für die Historizität der Geschlechterrollen und damit auch für deren Veränderbarkeit schärfen.*

* Bei den kursiv formatierten Abschnitten handelt es sich um Originaltexte der aktuellen „EMMA“ (Juli/August 2017).

Villa: Das ist womöglich spezifisch Berlin und/oder Freiburg. Tatsächlich entwickelte sich das in sich heterogene Spektrum der „Gender Studies“ – die jenseits weniger Zentren in Deutschland übrigens kein Fach bilden und nur an einigen Universitäten als BA oder MA zu studieren sind – aus der Frauenforschung heraus. Diese war im deutschsprachigen Raum zwischen den späten 1970ern bis in die Mitte der 1990er von sozial- und geschichtswissenschaftlichen Zugängen geprägt, womöglich gar dominiert.

Es ging dabei auch um das Geschlechterverhältnis als sozialer Struktur, als Achse von Ungleichheit. Es ging auch um Arbeit/Care und deren historische Dynamik in der Verbindung mit der Herausbildung des Kapitalismus (Hausfrauisierung, Sekundärpatriarchalismus, Lohn für Hausarbeit, Produktion/Reproduktion usw.); es ging um Sexualität und Gesellschaftsanalyse bzw. -theorie. Die Kritik des Rollenkonzeptes gehörte übrigens zu den wesentlichen Debatten der 2000er. Und, ja, um Repräsentationen ging es auch, etwa in der Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Modell der Geschlechtercharaktere z. B. in Konversationslexika (vgl. Hausen 1977).

Es gab meines Wissens keine Gründung des Faches Gender Studies. Diese multiperspektivische Konstellation entwickelte sich vielmehr aus der Frauenforschung und unter zunehmender Verbreiterung ihrer Perspektiven: Literatur- und Kulturwissenschaften, Psychoanalyse indeed, Wissenschaftsgeschichte und -theorie, Naturwissenschaften, Medien- und Kunstwissenschaften (so etwa Filmtheorie). Das ist deshalb wichtig, weil es kaum möglich ist zu fixieren, wann von wem wie und wo ein Fach namens Gender Studies „gegründet“ wurde. Kommt man übrigens leicht nach zwei Klicks drauf, Fachliteratur lesen hilft noch weiter.

Zwei Jahrzehnte später sind die meisten Lehrveranstaltungen der Geschlechterforschung an solchen Fragestellungen total desinteressiert – und an der Frauenemanzipation als solcher.

Frauenemanzipation? Wieso sollten sich die Gender Studies auch dafür interessieren? Oder anders gesagt: Doch, sie interessieren sich dafür, als empirisches Objekt der Forschung nämlich. Es gibt sehr viele Arbeiten zu Frauenbewegungen und allen Dimensionen dieses Themas: historische Formen in unterschiedlichen Regionen, die Binnenstruktur feministischer Bewegungen und ihre konfliktreichen Spannungen, generationale Aspekte, soziale Erinnerung/Tradierung, Institutionalisierungsprozesse, blinde Flecken, nicht zuletzt der Kampf um das Subjekt des Feminismus: „Ain’t I a woman“, fragte bekanntermaßen Sojourner Truth bereits 1851. Diese Frage ist bis heute virulent geblieben und die forschende Auseinandersetzung damit zeigt: Die Frauenemanzipation „als solche“ ist nur scheinbar ein Ding.

Tatsächlich gibt es empirisch verschiedene, einander bisweilen dezidiert widersprechende Vorstellungen, Praxen und Effekte dessen, was als Frauenemanzipation gilt. Das ist in einigen Studien der Gender Studies nachzulesen (für Deutschland; Gerhard 1995, 1997, 2001, 2009; Lenz 2010; Thon 2008; als aktuelles Beispiel über D hinaus: feministische studien H1/Mai 2017).

Ansonsten, und womöglich meint der Text auch eher das: Nein, die Gender Studies sind nicht der akademische Arm eines politischen Emanzipationsprojektes. Das wiederum sehen nicht alle gleichermaßen im Feld so. Es gibt durchaus manche, die mit Wissenschaft, mit Forschung und Lehre „frauenemanzipatorische“ Politik machen (wollen). Aber das sind eben einige. Das Verhältnis zwischen Gender Studies einerseits und Politik andererseits ist ein komplexes, spannungsreiches, kontroverses und von manchen auch als viel zu eng beschriebenes (vgl. Hirschauer 2014).

Gender-Studies-Kurse tragen nunmehr Titel wie „Muslim Queer Subjectivities and Islamic Ethics“ oder „Einführung in die interdependente VerRücktheitsforschung/Mad Studies“.

Und warum auch nicht? Sind doch interessante Themen. Davon abgesehen, dass spätestens seit Sigmund Freud und Michel Foucault klar sein dürfte, dass die forschende Auseinandersetzung mit Wahnsinn und dem Verrückten systematischen Erkenntnisgewinn zu Gesellschaft und allem Drum und Dran abwirft, und auch abgesehen davon, dass etwa die DFG eine interdisziplinäre Forschungsgruppe zu „Kulturen des Wahnsinns“ gefördert hat – will heißen: Die DFG hat für exzellent befunden, dass sich Forschende damit auseinandersetzen –, so ist nicht nachvollziehbar, was an diesen Titeln so besonders oder so besonders problematisch sein soll.
Folgende Themen sind ebenso Teil der Gender-Studies-Lehre:
• „Gender und Kapitalismus. Klassische und zeitgenössische Analysen zum Wandel der Geschlechterverhältnisse“ (LMU München, SoSe 17)
• „Bodies at Work. Interdisziplinäre Perspektiven und Kritik“ (LMU München, SoSe 17)
• „Gender & Health. The US American Case“ (LMU München, SoSe 17)
• „Global Historical Perspectives on Masculinity in the Nineteenth and Twentieth Century“, (FU Berlin, SoSe 2017)
• „Mit Recht gegen Diskriminierung? Kritische und interdisziplinäre Perspektiven auf Antidiskriminierungsrecht“ (HUB, SoSe 17)
• „Gender and Environment: Ecofeminism and Sustainable Development“ (HUB, SoSe 17)
• „Rechtliche Regulierungen von Körper und Sexualität“ (HUB, SoSe 17)
• „Zwischen Arbeit, Recht und Moral. Zur Geschichte und Entwicklung der Sexarbeit im Ruhrgebiet“ (RUB, SoSe 17)
• „Gender, Migration & Flucht. Der schwierige Umgang mit Differenz und die Verbindung von Ethnizität, Identität und Geschlecht“ (Univ. Freiburg, SoSe 17)
• „Weibliches vs. männliches Gehirn? Wie die Neurowissenschaft Geschlecht untersucht“ (Univ. Freiburg, SoSe 17)
• „Konsumkultur und Geschlecht“ (Univ. Basel, Herbstsemester 17)
• „Gender Indifferenz“ (Univ. Mainz, SoSe 17)
• „Gewalt und Geschlecht“ (Univ. Köln, SoSe 17)
• „Digitalizing Feminism: Gender und Ungleichheitsverhältnisse im digitalen Raum“ (Univ. Köln, SoSe 17)
• „Zwangsverheiratung von Mädchen und Frauen in Deutschland, Möglichkeiten von Prävention und Beratung unter Berücksichtigung gender- und (familien-) kulturspezifischer Aspekte“ (Univ. Bielefeld, SoSe 17)
• „Menschenrechte – Frauenrechte“ (Univ. Bielefeld, SoSe 17)
• „Von Wochenzeitung bis zu Netflix – sexuelle Diskriminierung und Gewalt in Medien“ (Univ. Bielefeld, SoSe 17)
• „Gender and Politics in Arab MENA States“ (Univ. Zürich, SoSe 17)
• „Theoretische Grundlagen der Gender Studies: Simone de Beauvoir“ (Univ. Zürich, SoSe 17)

… worauf dieser Ausschnitt deutet: „DIE“ Gender-Studies-Kurse tragen allerlei Namen und behandeln allerlei Themen. Es lässt sich sinnvoll diskutieren, was wie davon für wen warum produktiv, politisch relevant, forschungsorientiert, kompetenzgenerierend, national oder international an Debatten anschlussfähig, aufklärerisch bildend oder auch nur „spannend“ ist. Dafür bräuchte es dann aber schon Argumente und Maßstäbe. Die sind im Text nicht zu finden. Die suggestive Programmatik, dass es um Frauenemanzipation gehen solle, reicht nicht.

Viel diskutierte Postulate heißen „Critical Whiteness“, „Intersektionalität“ oder „Femonationalismus“.

Viel diskutiert, exakt. Denn die sozialen Verhältnisse sind komplex, und das, was Menschen empirisch für sich und mit anderen draus machen, ist es auch. Das ist eine lebensweltliche Binse, das ist noch unterhalb von Soziologie 101 (@Intersektionalität). Critical Whiteness diskutiert – ob im aktivistischen, akademischen oder policy Rahmen – die Universalisierung und Unsichtbarmachung einer partikularen Form (das „weiß-Sein“), dessen historische Dynamik (Kolonialismus, Rassismus, Exotisierungen usw.), kulturellen Verhandlungen, individuellen Effekte, Institutionalisierung. Wer von Rassismus sprechen will – ob forschend oder politisch –, kann dazu nicht schweigen. Das lässt sich seit Sojourner Truth, Black Panther und Black Lives Matter wissen. Kendrick Lamar oder Solange Knowles, Mykki Blanco oder Nina Simone gut zuhören ist übrigens ebenso lehrreich.

Femonationalismus wiederum thematisiert die Verklammerung von feministischen Artikulationen mit nationalistischer Rhetorik und Politik. Das ist im Prinzip spätestens seit der Ersten Frauenbewegung, insbesondere im deutschen Kaiserreich, ein relevantes Thema. Allerdings, das würde ich durchaus kritisch sehen, ist das akademische Verständnis von „Femonationalismus“ im Sinne von S. Farris (etwa 2011) verengt auf eine islamophobe Version und darin zu pauschal. Andererseits wird in der Rezeption vielfach übersehen, wie sich etwa Farris mit dem Zusammenhang zwischen „Femonationalismus“ und politischer Ökonomie auseinandersetzt, d. h. zwischen ideologischen und materiellen Dimensionen.

Alle drei Chiffren stehen in einer langen Genealogie der Frauen-, dann Geschlechterforschung, die ihrerseits mal mehr, mal weniger, mal gar nicht feministisch/politisch ist. Inwiefern in diesem Lichte „Critical Whiteness“, „Intersektionalität“ oder „Femonationalismus“ ein Beleg für die Abkehr vom eigentlichen oder eigentlich richtigen Weg der Gender Studies seien, wie der Text suggeriert, ist ein Rätsel. Ist es denn nicht sinnvoll, sich mit komplexen sozialen Verhältnissen, etwa mit dem Zusammenhang von Geschlechter-/Klassen- bzw. Ungleichheits-/“Rasse“-Verhältnissen (und eventuell noch weiteren Strukturen wie Sexualität) auseinanderzusetzen? Können die Gender Studies von Gender sprechen, und dabei von „race“ oder „Klasse“ schweigen? Ja, das sind tatsächlich rhetorische Fragen.

Der queerfeministische Nachwuchs pöbelt derweil auf dem Campus, in den Straßen und im Internet gegen „weiße Cis-Männer“, gegen „TERFs“ (trans exclusionary radical feminist, also radikale Feministin, die Transmenschen ausschließt) oder „SWERFs“ (Sexworker exclusionary radical feminist, also radikale Feministin, die Sexarbeiterinnen ausschließt). Er prangert unentwegt die „Privilegien“ der anderen an, fordert geschlechtsneutrale Pronomen ein und sinniert mit weinerlicher Verve über „Verletzbarkeit“. Das persönliche Leiden an der Welt wird zum wissenschaftlichen Thema verklärt.

Das mag ein Ding sein, und in meiner Blase wird spätestens seit „Beißreflexe“ (Patsy L’Amour laLove 2017) genau das kontrovers diskutiert. Was genau das nun mit den Gender Studies zu tun hat, wäre ein paar explizite Sätze wert gewesen. Aber auch so: Solche Auseinandersetzungen gibt es. In Unis, auf den Straßen, im Netz – indeed. Davon abgesehen, dass Pöbeln die Textur so vieler Texte und Sätze, insbes. in Social Media ist – ich würde den Text von Vukadinović durchaus auch in das Genre einordnen –, und dass die „Weinerlichkeit“ ein Diffamierungs-Move seit feministischem Gedenken ist, so gibt es tatsächlich eine seit Jahren in Subkulturen, im Feuilleton und auch im Seminar um sich greifende Praxis, Verhältnisse und Strukturen mit Personen gleichzusetzen und Letztere für Ersteres haftbar zu machen. Das ist ein Problem, es ist so falsch wie inhuman, so destruktiv wie sektiererisch.

Dieser positionale Fundamentalismus („Du bist eine soziale Position“; ausführlich Villa 2017) ist freilich nicht neu. Wer noch weniger zu Nachwuchs gehört als der sich paternalistisch gerierende Autor, etwa wie ich, kennt die Auseinandersetzungen in Männerplenen autonomer Zentren der 1980er (ich ja leider nur vom Hörensagen in Echtzeit) oder die Auseinandersetzungen um die Frage, wer in „Frauenseminare“ oder „Frauenbuchläden“ überhaupt hinein darf. Wer lesen kann oder dabei war, kennt diese Logik aus der Zweiten Frauenbewegung (ich empfehle die Quellensammlung Lenz 2008 ebenso wie Texte von Alice Schwarzer zur Einführung).

Geschlechtsneutrale Pronomen sind ein issue, auch das steht in einer langen Tradition der politischen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit für Fragen der Sichtbarkeit, der Subjektivierung, der Präsenz im Gesellschaftlichen, die nunmal auch (auch!) über Sprache läuft.

Richtig wichtig ist indes: Das persönliche Leiden an der Welt, es ist mitunter politisch. Es ist unter Umständen (sic!) historisch geworden, es wird kulturell verhandelt, es hat ökonomische Dimensionen. Das persönliche Leiden an der Welt mancher hat nicht zuletzt systematisch mit dem Glück auf Erden anderer zu tun. Das zu diskreditieren ist eine mindestens dumme und ignorante Haltung, es erhöht zudem unter Umständen das Leiden. Allerdings: Diese Zusammenhänge gilt es, in mühsamer Forschungs- und Debattenarbeit auszuloten. Denn selbstverständlich ist nicht jedes beliebige Leiden an der Welt unmittelbar derartig politisch und selbstverständlich muss das nicht Thema der Forschung, der Politik, der Diskussion sein. Zwischen den Extremen der Nicht-Beachtung und Diskreditierung, zwischen unbedingter Personalisierung und Verabsolutierung der Befindlichkeit liegt die Redlichkeit und die Wahrheit im Umgang mit der sozialen Dimension des Affektiven.

Aber noch mal: Ob dies alles ein Charakteristikum der Gender Studies ist, das bezweifle ich ebenso wie die Annahme, das sei (wenn, dann) nur in den Gender Studies so. Dass es an einzelnen Orten – nennen wir ein Beispiel beim Namen: die Berliner Humboldt Uni seit ca. zwei bis drei Jahren – so ist, dass die soziale Wirklichkeit in Form politischer und subkultureller Auseinandersetzungen rund um Affekte und Identitäten in die Lehre schwappt, das bezweifle ich hingegen nicht. Auch in Köln, Freiburg, Basel, München, Bielefeld, Bochum, Kassel und andernorts ist es möglich, dass Studierende (und Lehrende) in Seminaren (auch, aber nicht zwingend ihre) Befindlichkeiten thematisieren. Es sollte meines Erachtens auch möglich sein. Aber wenn es dabei zu Pöbeleien kommt, ist das in der Tat ein Problem. Formen zu finden, die reflexive Auseinandersetzungen jenseits des Zurückpöbelns und diesseits des Ernstnehmens entwickeln, das ist wohl Aufgabe insbesondere derjenigen, die älter und erfahrener sind, um im putzigen Jargon zu bleiben. Ich sehe mich da in der Pflicht, das tun übrigens auch viele Kolleg*innen im Feld.

Diese Entwicklung ist den Prämissen des Gender-Paradigmas geschuldet, das seinen akademischen Siegeszug in den 1990er Jahren angetreten hat und mittlerweile als Nonplusultra eines nicht-biologistischen Geschlechterverständnisses gilt. Demzufolge seien das soziale wie das biologische Geschlecht „konstruiert“, das heißt stets durch Vorannahmen geprägt und nur durch Kultur vermittelbar – kurz: es gäbe keine Natur bzw. keine Realität hinter ihnen. Diese Annahme wird von der Queer Theory gestützt, welche den gleichen Gedanken auf das Sexuelle ausweitet. Und sie wird von den Postcolonial Studies flankiert, die das Nachbeben des Kolonialismus untersuchen. Dieser „Aufmerksamkeitswechsel“ gilt in der Geschlechterforschung als bedeutsame Weiterentwicklung, weil damit Fragen des „minoritären Begehrens“ und des „Rassismus“ auf die wissenschaftliche Agenda gesetzt worden seien, welche die historische Frauenforschung einst ignoriert habe. Was daraus folgt, ist ein (Ver)Urteilen um der Rüge, nicht um der Erkenntnis wegen. Mit dem Rotstift werden akademische Texte, gesellschaftliche Phänomene oder politische Probleme darauf abgeklopft, ob sie „sexistisch“, „rassistisch“, „homophon“ oder „transphob“ sind. Von da ist der Weg zu Sprechverboten nicht weit.

Das „Gender“-Paradigma ist tatsächlich nicht gut zwanzig Jahre alt, es ist deutlich älter – was in jeder Einführung in die (sozialwissenschaftlichen) Gender Studies nachzulesen ist. Bereits Erving Goffman schrieb in den 1970ern vom „genderism“ als sozialer Struktur, d. h. Gender als wesentlich soziale und nur marginal biologische Institution der Zweigeschlechtlichkeit, die ihrerseits Identitäten, Handeln, Wahrnehmung strukturiert (aber auch in allen Lehrbüchern, z. B. sozialwissenschaftlich akzentuiert: Aulenbacher 2010; Degele 2008; Lorber 1995; Wade/Marx Ferree 2015; literaturwissenschaftlich akzentuiert: Schößler 2008). H. Garfinkel hat – auch das ließe sich sehr leicht nachlesen – bereits in den 1960ern auf die soziale, interaktive, institutionell gespurte Konstruktion von Geschlecht aufmerksam gemacht, das läuft unter dem Namen „Ethnomethodologie“ (Kessler/McKenna 1978). In dieser Linie haben zahlreiche empirische Studien auf die soziale Konstruktion nicht nur der Geschlechterdifferenz, sondern auch anderer sozialer Differenzen hingewiesen („doing gender“/“doing difference“; u. a. und zusammenfassend West/Fenstermaker 1995).

Das „Gender“-Paradigma hat bereits Ende der 1980er, in den frühen 1990ern die Verwissenschaftlichung geprägt, und hatte zunächst so rein gar nichts mit Judith Butler, mit Poststrukturalismus oder Postmoderne zu tun. Sondern mit strikt empirischen, womöglich gar empiristischen Ansätzen, wesentlich aus der Soziologie einerseits, und mit wissenschaftshistorischen bzw. -kritischen Ansätzen andererseits. Zu erwähnen sind hier, neben den eben genannten, insbes. die Arbeiten von Thomas Laqueur, Evelyn Fox-Keller, Sandra Harding, Donna Haraway, Londa Schiebinger, Claudia Honegger, Kornelia Hausen, Frigga Haug, Gayle Rubin usw. Im deutschsprachigen Raum sind Ende der 1980er die ersten Monografien, Sammelbände und Texte erschienen, die sich dem „Gender“-Begriff zuwandten, auf der Suche nach weniger biologistisch determinierten empirisch-theoretischen Werkzeugen; Autor*innen wie Carol Hagemann-White, Gudrun-Axeli Knapp, Angelika Wetterer, Stefan Hirschauer, Gesa Lindemann, Helga Bilden, Regina Becker-Schmidt, Regine Gildemeister, dann auch Ilse Lenz und weitere (mich darf ich seit den frühen 00ern dazurechnen).

Es ging dabei auch und sehr wesentlich darum, die Natur-Kultur-Differenz als – im weitesten Sinne – gesellschaftliche Praxis zu thematisieren, diese gesellschaftstheoretisch und praxeologisch zu rekonstruieren und – nicht vor allem, aber doch – sich dabei vom Primat des Politischen stärker noch zu lösen, als es im Kontext der Frauenforschung der Fall war (wenngleich Politik und Forschung, Frauenbewegung und Frauenstudien seit Mitte der 1970er, also seit ihren Anfängen, in einer Spannung standen, die mehr oder weniger produktiv dauerproblematisiert wurde). Anders gesagt: Schon die Frauen-, dann die Geschlechterforschung war keine Verlängerung des Feminismus. Ich meine, das ist auch genau richtig so. Andere meinen, die Gender Studies seien immer noch nicht hinreichend politikfrei (so immer wieder Stefan Hirschauer). Wiederum andere meinen, feministische Haltungen ließen sich nicht nur in den Gender Studies realisieren, sie sollten dort auch ihren Platz haben – ohne freilich immer und bei allem miteinander identisch sein zu müssen. Die Kontroverse läuft. Ich führe sie gern auch mit denjenigen, die meinen, die Gender Studies seien nicht politisch genug. Auch deshalb bin ich über dieses Text-Stöckchen gesprungen und schreibe diese ewig lange Replik.

Merke: Das Gender-Paradigma ist das wissenschaftliche Versprechen auf die forschende Thematisierung der Geschlechterdifferenz. Nicht mehr, nicht weniger. Inwiefern dabei das Biologische, die Natur, das Stoffliche eine Rolle spielt – und wenn ja, welche – dazu gibt es kilometerweise Fachliteratur aus allen (yup, allen!) Disziplinen. Das Gender-Paradigma ist tatsächlich aus der Kritik an der Kategorie „Frau“ entstanden, insofern es aus epistemologischen und empirischen Gründen keinen außersozialen kleinen Unterschied gibt, der dessen große Folgen begründet. Darin ist auch die Erkenntnis eingelassen, dass das, was als Ausnahme, als Partikularität, als (Nicht-)Eigentliches oder (A-)Normales gilt, Teil historisch gewordener, von Herrschaft getränkter, in Praxen hervorgebrachtes Wissen ist. Auch in der Wissenschaft selbst. Daher ist tatsächlich die theoretisch informierte empirische Auseinandersetzung mit „minorisiertem Begehren“ oder mit Rassismus ein wichtiger Teil der Gender Studies. Mit dem sich niemand auseinandersetzen muss. Aber kann.

All diese Studien, Erkenntnisse, all diese Geneaologien und Forschungsstände zu ignorieren, das kann schon mal zu minder guten Noten in wissenschaftlichen Arbeiten führen, in der Tat. Das wäre allerdings in keiner akademischen Disziplin anders. In diesem Sinne bekommt der Text von Vukadinović von mir eine glatte 5 (mit Kulanz aufgrund des Engagements). Aber ich nehme ihn dennoch ernst. Was nicht zuletzt auch ein Beleg dafür sein könnte, dass es Sprechverbote in den Gender Studies nicht gibt. Jedenfalls nicht grundsätzlich. Und was Sprechverbote mit dem „Gender-Paradigma“ zu tun hätten, auch hier bleibt der Text Argumente oder Belege schuldig. Behauptungen von Zensur und Verboten sind eben das – Behauptungen. Wir kennen das aus der Selbstveropferung populistischer Rhetorik. „Man darf nix mehr sagen“, schallt es dann laut aus verschiedenen gut hörbaren Kanälen, hier nun aus der „EMMA“. Merkst Du selbst, oder?

Nicht eine Arbeit aus den Gender Studies hat in den letzten 20 Jahren eine gesellschaftspolitische Debatte geprägt oder zumindest vorangetrieben.

Nein? Nancy Fraser schreibt seit den 1980ern kritisch zu Anerkennung, Umverteilung, Wohlfahrststaat und Care – genau die Fragen, die heute intensiv im Kontext einer veritablen „Care-Krise“ politisch verhandelt werden. Der entsprechende Austausch zwischen Forschung, policy, Professionen und Praxis läuft – wie ich selber als Sprecherin eines einschlägigen Forschungsverbundes immerhin mit Belegen und nachvollziehbar behaupten kann. Judith Butler schreibt seit den 1990ern zu Fragen von Repräsentation, Sprache und Zensur, zunehmend auch zu Ethik, Gewalt, Politik und Verwundbarkeit – gerade Letzteres ist als „Prekarisierung“ ein wichtiges Thema der Sozialwissenschaften, vor allem aber der sozialen Wirklichkeit im globalen Süden seit Jahrhunderten, im global North nun auch seit Jahrzehnten (die Mayday Proteste und Gruppen wie Las Precarias beziehen sich ausdrücklich auf Butler; vgl. auch Lorey 2012). Raewyn Connell hat seit den 1980ern mit ihren Arbeiten zu Männlichkeit das beforscht, was seitdem und derzeit wieder besonders intensiv diskutiert wird: hegemoniale Männlichkeit in ihren auch destruktiven Formen (Kimmel „toxic masculinity“). Angela McRobbie hat zu einer weitreichenden und anhaltenden Debatte rund um Konsum, Populärkultur, neoliberale Verhältnisse und neue Gender-Regime beigetragen.

Die vielen Studien – normalwissenschaftliches KleinKlein – zu Gender Bias in Forschung oder in Märkten, zu Geld und Liebe, zu Altersarmut bei Frauen/Männern, zu Elternzeiten oder zu sexualisierter Gewalt haben als Expertise Eingang gefunden in Gesetze und policies. Oder auch nicht. Die Gender Studies haben sich auch kritisch mit allerlei policies befasst, die auf „Gender“ aufruhen – am prominentesten wohl rund um das „Gender mainstreaming“ (u. a. Pasero/Priddat 2004; Verloo 2007). Um alle genannten Themen und Expertisen hat es jeweils intensive Debatten gegeben: Quote, Elternzeit, Verschärfung des Sexualstrafrechts usw. Der Zusammenhang zwischen den Gender Studies einerseits und diesen Debatten andererseits mag nicht immer unmittelbar nachvollziehbar sein, aber es gibt ihn.

Im Übrigen ist der ganze „Gender“-Begriff wesentlicher Bestandteil von NGOs und von gleichstellungspolitischem und/oder frauenpolitischem und/oder feministischem Aktivismus weltweit. Der „Gender“-Begriff ist Teil der UNO Aktionsplattform von Peking. Dies wird übrigens seit Jahrzehnten international kontrovers diskutiert, inbes. im Kontext transnationaler katholischer Strukturen – kaum jemand kennt die „Gender“-Konzepte (und das Frühwerk Butlers) so gut wie Kardinal Ratzinger, der gewesene Papst (no shit). In Polen oder Frankreich, aber auch in Deutschland ist das ein Teil „gesellschaftspolitischer Debatten“. Sollten Gender-Studies-Absolvent*innen auch mal hinschauen, ernst nehmen, kritisch analysieren.

Ein Umstand, der unzweifelhaft der Unverständlichkeit der verwendeten Begrifflichkeiten sowie dem „methodischen“ Vorgehen geschuldet ist und im Kontrast zu Arbeiten aus der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder der Politikwissenschaft steht.

Ich habe Zweifel an dieser Behauptung. Unzweifelhaft ist das also nicht. Da ich selber Soziologin im Feld der Gender Studies bin, kann ich ziemlich sicher behaupten (und gern belegen): Auch die Soziologie produziert – aus mehr oder weniger guten Gründen – bisweilen unverständliche Texte. Muss sie auch, zum Teil jedenfalls. Denn wissenschaftliche Texte werden für Wissenschaftler*innen geschrieben. Wer das nicht anerkennt, zweifelt letztlich die Differenz zwischen Wissenschaft und Stammtisch an, um es stammtischig zu sagen. Das kann man machen. Ist aber halt nicht Wissenschaft. Und von daher eine Behauptung, die mit den Gender Studies nicht zu tun hat – alles aber mit der Wahrnehmung des Stammtisches. Um im eigenen Bilde zu bleiben.

Interessant, ehrlich, ist allerdings die Trennung, die der Text hier vollzieht. Sind denn die Gender Studies nicht auch Teil von Soziologie, Geschichtswissenschaft oder Politikwissenschaft? Doch, sind sie. Schon immer. Der „Gender“-Begriff stammt ja aus den Sozialwissenschaften, aus der Soziologie sogar (s. o.), wie ich proudly sagen darf. Mich würde nun interessieren, das scheint mir nämlich des Pudels Kern (pun intended) zu sein, ob es da draußen die Gender Studies ohne Sozialwissenschaften gibt – offenbar gibt es ja diese Wahrnehmung. Ich habe selber bisweilen den Eindruck, dass in den deutschsprachigen Gender Studies die Verklammerung von und der Austausch zwischen den Sozialwissenschaften und den Naturwissenschaften (mühsam und punktuell, aber doch) gelingt, wohingegen der zwischen Sozialwissenschaften und Kultur-/Literatur-/Geisteswissenschaften leider nicht wirklich. Das ist tragisch und bedauerlich. Ich bin am Versuch, dies institutionell zu vollziehen, zum Teil gescheitert, nämlich bei der Gestaltung der Gremien und Veranstaltungen der Fachgesellschaft Gender Studies in Deutschland. Zum Teil aber gelingt das pragmatisch ganz gut. Zu diesem Aspekt gibt es m. E. dringenden Diskussionsbedarf im deutschsprachigen Raum.

Nicht eine deutsche Professorin für Geschlechterforschung hat bis heute eine bahnbrechende These formuliert, die breite Anerkennung in der internationalen Wissenschaftslandschaft erfahren hätte. Es ist zudem keine Absolventin der jungen Disziplin bekannt geworden, die eine beachtliche Nachwuchskarriere hingelegt hätte.

Ob die Welt am deutschen Gender-Wesen genesen muss? Ist das ein Maßstab? Sind „bahnbrechende Thesen“ entscheidend? Tatsächlich sind sehr viele Professor*innen Teil internationaler Forschungsnetzwerke und nationaler wie transnationaler Projektkooperationen. So geht Wissenschaft nämlich. Normalwissenschaft ist das eher unspektakuläre Laborieren mit trockener Statistik, die zehnte Überarbeitungsrunde eines Textes im peer review, das mühsame Schreiben von Antragsprosa, die ebenso langwierigen wie belebenden Diskussionen mit Kolleg*innen allen Alters über Texte, über Material, über Erkenntnisse, das Auswerten von Material im Team, die vielen Vorträge und Diskussionen mit Fach- und öffentlichem Publikum. „Bahnbrechende Thesen“ sind dann Auslegungssache. Ich finde ja bahnbrechend (und gesellschaftlich relevant), dass wir derzeit von einer Verkörperung des natürlichen kleinen Unterschieds umstellen auf eine arbeitsintensive Selbst-Gestaltung des abstrakt richtigen Körpers – auch mit den zunehmend normal werdenden Mitteln der ästhetischen Chirurgie (Villa 2008). Ob andere das bahnbrechend finden? Die (zum Teil internationalen) Kolleg*innen finden das schon interessant, manche Medien übrigens auch. Aber offenbar finden das andere nicht so aufsehenerregend. Auch gut. So oder so trägt z. B. mein kleiner Beitrag hoffentlich zur nüchternen Differenzierung einer derzeit intensiven Diskussion bei um den mit Frauen bestückten „Fleischmarkt“ im Kapitalismus (Penny 2012) und zum Body Shaming.
Fun fact: Ca. 0,4 Prozent aller Professuren in Deutschland haben, Stand 2016, eine Teil- oder Volldenomination für Geschlechterforschung/Gender Studies/Frauenforschung). Eine „beachtliche Nachwuchskarriere“ sähe wie aus? Bei 0,4 Prozent Professurenanteil? Bei Nicht-Existenz der Disziplin in den Förderstrukturen, z. B. bei der DFG? Und doch gibt es sie: Absolvent*innen der Gender Studies, die promovieren, PostDocs sind, Forschungsgelder einwerben, Professuren innehaben – vertretungsweise, zeitweise, dauerhaft. Namen gern auf Anfrage.

Hiervon unbeirrt regiert in den Gender Studies weiterhin das Selbstbild, unverzichtbare universitäre wie gesellschaftspolitische Arbeit zu leisten. Die Fachgesellschaft Geschlechterstudien – der akademische Zusammenschluss aller, die an deutschen Hochschulen in den Gender Studies arbeiten – versteht das eigene Tun als wissenschaftlichen Ausdruck einer dem „Nichtanerkannten und Prekären verpflichteten Gesellschaft“.

Es geht in den Gender Studies vielfach – nicht immer und nicht allen, zum Glück – um die Frage nach der gesellschaftlichen Herstellung von Unsichtbarkeit und Prekarität, von Verwundbarkeit im ökonomischen, politischen, kulturellen, juristischen Sinne. Ein gut abgehangener Hut: Probleme ohne Namen (frei nach Betty Friedan) sind kein Zufall, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich – in komplexer Vermittlung – auch in der Wissenschaft zeigen. Die „Hausarbeit“ und die „Hausfrausieriung“, dann im Anschluss die Forschung zu „Care“, sind auseinander resultierende Beispiele für die Beforschung (und, wer mag, Kritik) des Kapitalismus einerseits und des Patriarchats (not in my name, aber ich nutze mal den Begriff) andererseits, d. h. das strukturelle Problem, das eine ohne das andere zu thematisieren. Solche Probleme zu konturieren, sie zu rekonstruieren, und – für manche gegebenenfalls! – zu kritisieren, das ist die oben genannte Verpflichtung.

Es soll ja Kolleg*innen und Leute geben, die meinen, das so genannte deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit habe weder mit der systematischen Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft zu tun noch mit dem nationalsozialistischem Regime der Zwangsarbeit. Die Auseinandersetzung mit dem „Nichtanerkannten und Prekären“ umfasst diese Beispiele ebenso wie die Frage nach den vielfach (noch) impliziten Dimensionen Sexualität, „race“. Es schließt auch ein das leidige „usw.“ – d. h., die intellektuelle und forschungsorientierte Bereitschaft anzuerkennen, dass wir nicht immer schon im Voraus wissen, welche blinden Flecke unsere Arbeit markieren, gar ermöglichen und auf welche Nichtanerkennungen die eigene Anerkennung oder die Anerkennung der eigenen Forschung aufsitzt.

Ich finde die vom Text zitierte Formulierung als Motto der Fachgesellschaft Gender Studies zugleich arg programmatisch. Mir ist das tatsächlich zu normativ. Aber jenseits von entsprechenden Diskussionen auf Tagungen oder in Texten habe ich bislang keinerlei Probleme gehabt, diese Losung nicht zum Leitmotiv meiner Forschung zu machen. Die offene und faire Diskussion darüber, was Prekarität hier und heute bedeutet – lebensweltlich, politisch und akademisch –, bleibt lohnend. Vielleicht mag sich der Autor daran beteiligen?

Die geistige Offenheit und kritische Distanz, die mit dieser Formel suggeriert werden, sind eine Farce: Im Gender-Clan herrscht kein Dialog zwischen widerstreitenden Standpunkten, sondern einzig ein Judith-Butler-Monolog.

Echt? Ich will gern anerkennen, dass Butler eine zentrale Bezugsautorin der Gender Studies ist. Ich will auch gern darauf verweisen, dass ihre Texte seit dem Erscheinen auf der Bühne von gender-academia mit Buh-Rufen und Beifall gleichermaßen begleitet sind. Dazwischen gab und gibt es ernsthafte Auseinandersetzungen, auch kritischer Art (meine eigene Einführung in ihr Werk möchte ich gern so sehen). Doch Wissenschaft ist keine Soloshow. Die Gender Studies arbeiten mit einer großen Fülle vieler, heterogener Autor*innen und Perspektiven. Die Debatte darüber könnte kontroverser, lebendiger sein, ja. Aber dass sie gar nicht stattfände, das ist schlichtweg Unsinn. „Die Gender Studies“, das sollte nun auch klar sein, gibt es als kompaktes Ding ganz offenbar nicht. Es gibt Personen im Feld der Gender Studies, die haben nicht nur mit Butlers Arbeiten nicht das Geringste am Hut, sie sind z. T. dezidierte Kritiker*innen ihrer Arbeiten. Entsprechend erstaunlich und erklärungsbedürftig ist die im Text vollzogene Engführung einer akademischen Konstellation auf eine Person. Pappkameradin, ick hör Dir trapsen.

Und der verhält sich – wie die Vordenkerin – bemerkenswert still, wenn es um die Entwürdigung, Misshandlung und Entrechtung von Frauen weltweit geht.

Sie steht, die Pappkameradin. Ich sag mal mit Adorno: „Dem Halbgebildeten verzaubert alles Mittelbare sich in Unmittelbarkeit, noch das übermächtige Ferne. Daher die Tendenz zur Personalisierung: objektive Verhältnisse werden einzelnen Personen zur Last geschrieben oder von einzelnen Personen das Heil erwartet.“ (Adorno 1959)
Ab von der kleinen Polemik: Auch hier stellt sich die Frage, warum sollten die Gender Studies zu diesen Fragen laut sein? Das hört sich so sympathisch an, und in der eigenen Echokammer sollte das auch evident tönen. Aber, welche Argumente wissenschaftlicher Art gibt es dafür, dass die Gender Studies sich laut zu diesen Phänomenen verhalten sollten? Eben. Keine zwingenden. Aber womöglich doch gute oder plausible (s. o.). Darum gibt es auch solche Stimmen. Es gibt Forschung zu all diesen Aspekten (AK Flucht und Gender; Buckley-Zistel 2016 u. a.; Drinck et al. 2006; Dittmer 2008; Engels/Gayer 2011; Joos 2004; Lipinsky 2001; Kartusch 2003; Kötter 2008; Loch 2006; Schäfer 2008; Scherschel 2016; Stiglmayer 1993 z. B.). Es gibt ganze Graduiertenkollegs zu diesen Themen, z. B. Gender Initiativkolleg „Gewalt und Handlungsmacht“ an der Univ. Wien, 2012–2015 (ungefähr). Viele, viele weitere ließen sich leicht finden – Willen und Google vorausgesetzt.

In den Graduiertenkollegs der Geschlechterforschung werden Promovierende angehalten, lieber Doktorarbeiten über ihre Lieblingsserien abzufassen, statt sich mit den realen Hinterzimmern der deutschen Gesellschaft zu beschäftigen – Frauenhäusern und Gefängnissen beispielsweise.

Kann man mal behaupten. Stimmt aber pauschal nicht. Ein Graduiertenkolleg, das sich ausdrücklich mit Gewalt befasst, habe ich erwähnt. An systematischen Studien etwa zu „Gewalt gegen Frauen“ sind auch Forschende aus den Gender Studies befasst, z. B. an den EU-Erhebungen. M. Schröttle, eine der bekanntesten und forschungsstärksten Kolleginnen zum Thema, war lange im Vorstand der Fachgesellschaft Gender Studies. Auch diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Auch zum Thema Gefängnis liefert Google nach einem Klick Folgendes, nämlich die vielen Arbeiten von M. Bereswill. Man muss nur gewillt sein, die Gender Studies in ihrer Breite und Gänze, in ihrer etwas amorphen und konfusen Vielfalt ernst zu nehmen. Dann findet man eben auch die ganze Palette. In dieser leuchten allerdings nicht alle Farben gleich stark, d. h. tatsächlich gibt es Themenkonjunkturen. Gefängnisse gehören im deutschsprachigen Raum nicht zu den derzeit besonders intensiv untersuchten empirischen Konstellationen. Das könnte jede*r Promovend*in ändern. Ich betreue gern!

Dumm ist allerdings, das eine gegen das andere auszuspielen. Forschungsarbeiten über Lieblingsserien schaffen Wissen. Und das ist die Funktion von Wissenschaft. Forschungsarbeiten über „Orange is the New Black“ schaffen überdies eventuell Wissen, das im Zusammenhang mit dem „prison-industrial complex“ (Angela Davis) steht, und dies könnte – wer das sinnvoll findet – wiederum in kritische Interventionen eingebracht werden. Die Trennung also zwischen gesellschaftlichem Sein (Gefängnis, Krieg, Folter, you name it) und kulturellem Schein (Serien, Fotos, Pop, Clips, Memes, you name it) war noch nie richtig, sie ist es heute, in durchmedialisierten, bildgefluteten Zeiten noch weniger. Dazu passt, finde ich, dass von Susan Sontag über Peter Berger bis Judith Butler – hierzulande z. B. Linda Hentschel, Antke Engel – die Auseinandersetzung mit Gewalt, Bild und Geschlecht (etwa entlang der Abu-Ghuraib-Fotos 2004) eine wichtige Rolle in den Gender Studies spielt. Es stimmt, es geht dabei wesentlich um Darstellungen. Und die körperlichen, biografischen, tatsächlichen Erfahrungen von Leid und Gewalt stehen dabei nicht im Mittelpunkt. Nur, wie gesagt, es gibt auch viele Studien zu genau diesen unmittelbaren Aspekten (eine habe ich jüngst als Promotion betreut, sie wird bald veröffentlicht, G. Yüksel zu Raum/Geschlecht in Hatay, Türkei). Aber es sind sicher nicht genug Studien, geschenkt.

Eklatante Forschungslücken sind augenscheinlich. Eine umfängliche Kritik der Gender Studies zum Beispiel am Deutschrap, dessen frauen- und schwulenverachtenden, vor Gewalt nur so strotzenden Erzeugnisse sich millionenfach verkaufen und zu Untersuchungen geradezu einladen: Fehlanzeige. Systematische Erhebungen zum Geschlechterbild von Moscheepredigern in Europa: ebenso. Analysen zu den Zehntausenden jungen Männern und Frauen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und anderen Staaten, die sich dem Jihad in Syrien angeschlossen haben: inexistent.

Es gibt zu all diesen Themen Forschung (z. B. die Arbeiten von S. Schröter in Frankfurt/M zu Muslima und Muslime in Deutschland aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektive, von P.-I. Villa zur Pornoästhetik im Pop; zum Jihad in Syrien muss ich passen). Oder aber diese Forschung wird angeschoben. Und, keine Frage, zu diesen Themen sollte mehr geforscht werden, da stimme ich zu. Aber Forschungslücken sind, so scheint mir, nicht das Problem, das hier moniert wird. Denn eine „umfängliche Kritik“ ist eben was anderes als eine „Forschungslücke“. Es bleibt dabei, die Gender Studies sind keiner spezifischen Form der Kritik oder Politik verpflichtet. Wer eine umfängliche Kritik von „Deutschrap“ sucht, kann sie finden (z.B. bei Springstoff, im Kontext von „Zeckenrap“, bei Lady Bitch Ray). Doch: Was genau soll Deutschrap sein? Rap auf Deutsch wie von Sookee? „Deutschrap“ ist die Bezeichnung von chanels bei bigFM oder hiphop.de. Sich aber von solchen lebensweltlichen Pseudo-Eindeutigkeiten zu lösen und genauer zu fragen, ist das, was Forschung kann. Vorab die Kritik zu formulieren, das verunmöglicht sie. Ein paar Lektürehinweise dennoch zu HipHop/Rap in Deutschland, weil es wirklich sehr spannend ist: Bock et al. 2007 (hier auch mit Analysen zu Islamismus im HipHop); Güler Saied 2013; Kaya 2015.

Das Fach bildet nicht zur Analyse evidenter Probleme und deren möglicher Lösung aus, sondern zum Beanstanden des Sprechens Dritter über etwas. Unmittelbares Resultat sind überproportional viele Dissertationen, die lediglich damit befasst sind, wie etwas medial dargestellt oder wissenschaftlich verhandelt wird. In diesem Geiste geschulte Arbeiten zeigen deshalb, wie es in der Geschlechterforschung wirklich um das „Nichtanerkannte und Prekäre“ bestellt ist. Daniela Hrzán in Hannover, Gender-Expertin für das Reden über Genitalverstümmelung, zum Beispiel hat in einer Reihe von Texten gemahnt, statt von „Female Genital Mutilation“ lieber von „Female Genital Cutting“ zu sprechen: Nicht etwa der barbarische Akt sei menschenverachtend, sondern der Begriff „Verstümmelung“, da dieser nahelege, dass die Betroffenen unter dem gewaltsam Erlebten leiden. Die Kulturwissenschaftlerin weiß es besser: „Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass erfüllte Sexualität nicht zwingend mit Orgasmusfähigkeit in Zusammenhang gebracht wird“, schreibt sie in beiläufiger, doppelter Niedertracht gegenüber den Opfern von Rasierklingen und Messern. In gleichem Tonfall moniert Ann-Kathrin Meßmer in Berlin, Gender-Expertin für das Reden über Intimchirurgie, dass in Schriften zur Genitalverstümmelung „die afrikanische Frau“ als „sich nach westlichen Standards zu emanzipierende“ gesehen würde.

Das kann man problematisch finden. Wenn man denn klare politische Maßstäbe anlegt. Es gibt sie aber im Text nicht. Und ich sehe, wie mehrfach formuliert, auch nicht, wie sie verbindlich zu formulieren wären. Nach Jahrzehnten voller Auseinandersetzungen um den schwierigen Zusammenhang von Politik, Normativität, Epistemologie und empirischer Forschung in den Gender Studies (und bekanntlich nicht nur dort) ist eines klar: Politik und Forschung sind nicht aufeinander abbildbar. Das mag man aus Sicht der Politik, der Opfer von Gewalt oder aus dem Unbehagen an Lyrics im Rap beklagen. Das ist völlig legitim. Aber es folgt daraus kein Imperativ für die Forschung. Im besten Fall treten diese Sphären und Perspektiven in einen Dialog und übersetzen einander wechselseitig. Dann wird es interessant: Wie hängen nun „Genitalverstümmelung“ in verschiedenen regionalen Kontexten (nicht) zusammen? Was bedeutet das für betroffene Frauen bzw. Menschen? Wer verdient was woran wo? Niemand, absolut niemand hindert irgendjemanden daran, sich damit auseinanderzusetzen. Nur zu.

Westliche Standards wie Menschenrechte, Frauenemanzipation und Religionsfreiheit, die Meßmer ganz selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nimmt – darauf sollen die Tausende Mädchen, die tagtäglich dem inhumanen Ritual unterworfen werden, keinen Anspruch haben: vielmehr sollen sie vor „Verwestlichung“ geschützt werden.

Steht das irgendwo in den Arbeiten von Meßmer? Quellen? Und, wenn, ließe sich damit nicht streiten? Eine fundierte Auseinandersetzung damit ließe sich sicherlich bei einschlägigen Zeitschriften unterbringen. Ich bin mir überdies auch sicher, dass die Autorin – deren Dissertation ich betreut habe, das lege ich hier gern offen – solche Punkte diskutiert, wenn es denn ernsthaft gewollt ist.

Claudia Brunner schließlich, Gender-Expertin für das Reden über Selbstmordattentate, leitet einen Artikel mit der rhetorischen Frage ein, ob es nicht besser wäre, statt von „Female Suicide Terrorism“ von „Female Suicide Bombing“ zu sprechen, da erstere Bezeichnung Massenmord „als illegitim generalisieren“ würde. Schlimmer noch: „Geläufige Darstellungen von Suizidbomberinnen tendieren dazu, historische westliche kolonialistische Auffassungen von Frauen aus der Dritten Welt widerzuspiegeln, gelenkt von imperialistischen Ansichten und deren spezifischen okzidentalistischen Genderismen“, so die Autorin, die in einem Interview noch beklagte: Terroristen werden durch ihre mediale Darstellung ausschließlich als brutal und irrational gezeigt, um dadurch ihre politischen Ziele unsichtbar zu machen (…). Die Terroristen werden als Monster dargestellt. Die Dutzende, bisweilen Hunderte von Menschen, die durch Selbstmordattentate zerfetzt oder auf Lebenszeit entstellt werden, sind der Gender-sensiblen „Analyse“ einer Claudia Brunner nicht eine Zeile wert.

Als politische Kritik, fair enough. Daraus einen Strick gegen die Wissenschaftlichkeit – „Forschungslücken“ –, gegen die Gender Studies zu drehen: not so much. Das funktioniert einfach nicht.
Zugleich: Wichtige Themen, schwierige Debatten, sollten unbedingt geführt werden. Im Lichte der komplexen Vermittlungen von Politik und Wissenschaft: als nicht gänzlich unabhängige Konstellationen, aber doch als funktional differenzierte und eigenlogische Felder. Das gilt für das Nachfolgende ebenso.

Abermals ist es die Vordenkerin des Gender-Paradigmas, die inspiriert. Die in Amerika mit einer Frau verheiratete Judith Butler schwärmte vor einigen Jahren von den Terrororganisationen Hamas und Hisbollah als „progressiv“ und nannte sie einen „Teil der globalen Linken“. Auch ihre Faszination für die Burka verschleiert die Philosophin nicht. Das mobile Stoffgefängnis sei eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“, das nicht etwa Frauen zum Verschwinden bringt, sondern einen „Schutz vor Scham symbolisiert“ und deshalb zu konservieren sei. Butler wörtlich: „Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen, die Spuren hinterlassen wird. Wir sollten keineswegs davon ausgehen, dass Verwestlichung immer eine gute Sache ist. Sehr oft setzt sie wichtige kulturelle Praktiken außer Kraft, die kennen zu lernen es uns an Geduld fehlt.“ Frauen kennenzulernen, die von den Taliban unter Androhung des Todes kollektiv in menschliche Säcke verwandelt worden sind, oder denen für missfälliges Verhalten bei lebendigem Leib Nasen und Ohren abgeschnitten wurden: die hierfür notwendige Geduld fehlt vor allem einer Judith Butler. Die angebliche Entzauberin geschlechtlicher Identitäten als Gralshüterin islamistischer Kleiderordnung – eine geistige Allianz des Grauens. Auch die deutschen Fans der BurkaApologetin haben sich auf deren antiimperialistisches Weltbild längst eingeschworen. Dem gilt alles „Westliche“ a priori als verdächtig, alles „Nicht-Westliche“ hingegen a priori als zu bewundern, zu erhalten und vor Kritik zu schonen. Bettina Mathes ist, zusammen mit der emeritierten Gender-Professorin Christina von Braun, Co-Autorin der 2007 erschienenen Islam-Eloge „Verschleierte Wirklichkeit“, in der sich u. a. eine überaus devote Aufforderung zur Selbstzensur findet. Kritik an jener „Religion“ solle unterlassen werden, stattdessen sei die „Gewalt auslösende Wirkungsmacht symbolischer und unbewusster Ordnungen im Umgang mit dem Fremden ernst zu nehmen“. Im Klartext: Wer Meinungsfreiheit anhängt, dürfe sich nicht wundern, wenn Gläubige mit Mord und Morddrohungen auf Filme oder Karikaturen reagierten – so etwa 2004 bei dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh oder 2010 bei dem dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard. Schon während ihrer Zeit als Gender-Studies-Dozentin an der HU Berlin verfolgte Mathes einen „antiimperialistischen“ Kurs, zwei islamismus-kritische Studenten beschuldigte sie einmal für das „Verbreiten islamfeindlicher Parolen“; einen davon verwies sie sogar des Seminarraums. Mathes betrieb eine Weile lang auch einen privaten Blog, auf dem sie einst ein „Argument for the Burqa“ veröffentliche, die sie als Schutz vor einem ominösen „männlichen Blickregime“ anempfahl. In den letzten Jahren hat sich Sabine Hark, an der TU Berlin Professorin für Soziologie und laut WDR „Deutschlands wichtigste Genderforscherin“, als unermüdliche Streiterin für einen „antiimperialistischen Egalitarismus“ zu profilieren versucht – eine Formulierung, die sie direkt aus einer Schrift ihrer philosophischen Ikone Butler übernommen hat. Dass sich jeder Neonazi, jeder Dschungel-Guerillero und jeder Islamist auf seine Weise als Kämpfer für einen „antiimperialistischen Egalitarismus“ verstehen dürfte, ist der politisch ahnungslosen Akademikerin herzlich egal: Was Judith Butler denkt, wird schon stimmen. Entsprechend werden Prioritäten gesetzt.

Die Pappkameradin – Judith Butler – wird zur allmächtigen Riesenfigur, die alles und alle im Feld dominiert. Und die mit einer Frau verheiratet ist! In den USA! Krass! Mal alle schmierigen Diffamierungen und rhetorischen Taschenspielertricks – „politisch ahnungslos“ versus „Akademikerin“ – beiseitegelassen: Ja, die Aussagen von Butler zur Hamas und Hisbollah sind mindestens problematisch, ich finde sie ebenso wie ihre Unterstützung der BDS-Kampagne inakzeptabel. J. Butler hat hierzu ausgiebig geschrieben und sich dieser Thematik, insbes. in der Auseinandersetzung mit der jüdischen Diaspora und zeitgenössischem Zionismus, gestellt. Das muss nicht überzeugen, aber es lässt sich diskutieren. Auch mit ihr. Wenn daran die Affinität zu „Neonazis, Islamisten oder Dschungel-Guerilleros“ (oder guerilleras bzw. guerillerxs, wenn schon ;-) ) das Problem ist, so müsste dem offenbar politisch gewieften Autor auffallen, dass dieser Text in der „EMMA“ den Birgit Kelles und Björn-Bernd Hoeckes aus der Seele spricht. Wenn das mal nicht im Dienste der Frauenemanzipation ist! Der Text soll nicht in die Ecke? Well …
Wieder sachlicher gesprochen, scheinen auch mir, da stimme ich dem Kritik-Kern in der Polemik zu, die zitierten Formulierungen im Sinne allzu leichtsinnig „kulturrelativistisch“. Und sie sind allesamt Teil des Feldes Gender Studies. D’accord. Aber, ich wiederhole mich, sie sind nicht das ganze Feld. Gleichwohl ist auch für mich deutlich, dass in den Gender Studies vor lauter Sorge davor, rassistisch zu sprechen bzw. problematischen Mustern der Ver-Anderung aufzusitzen, derzeit einige Themen kaum oder nicht hinreichend beforscht bzw. thematisiert werden. Ich lese das als Ausdruck einer gewissen Rat- und darum Sprachlosigkeit angesichts der neuen Verflechtungen, die wir im politischen Raum erleben.

Nach der Silvesternacht in Köln initiierte Hark nicht etwa empirische Erhebungen, um Informationen über die Zusammensetzung der patriarchalen Meute am Hauptbahnhof zu gewinnen, sondern sinnierte darüber, wie der „Feminismus von der Borniertheit der Ersten Welt zu lösen“ sei. Ein 2017 gehaltener Vortrag von Gabriele Dietze an der Universität Basel bekrittelte die „sexualpolitisch aufgeladene okzidentale Überlegenheitsnarrative“, um „paradoxe Rückkopplungsaspekte von Fremd- und Eigenwahrnehmung zu erfassen.“ – „Sind noch Fragen, oder droht schon Migräne?“, wunderte sich NZZ-Journalistin Birgit Schmid angesichts dieser Zeilen. Der angestrengte Jargon schaukelt gewichtige Denkleistungen vor, der junge Erwachsene weder zum kritischen Befragen der Gegenwart animiert noch zu unabhängigen Denkerinnen und Denkern ausbildet – sie werden vielmehr eingeschüchtert. 
Weil sie unweigerlich annehmen, dass das, was sie in einem universitären Rahmen zu hören bekommen, intellektuell gewichtig sein muss, wird ihr Verstand nicht geschärft, sondern vernebelt. Konkreter: Das Studium der Gender Studies macht Studierende oftmals nicht schlauer, sondern in vielen Fragen dümmer.

Ist das so? Liegt dem eine systematische Untersuchung zugrunde, wie sie soeben noch gefordert wurde? Oder sind diese Zeilen selbst Ausdruck einer solchen akademischen Sozialisation, insofern sie dem Zeitgeist entsprechen, wie man ihn seit Zastrow (2006), Röhl (2005 bis heute), Martenstein (2013), Kelle (u. a. 2015), Meyer (2016, 2017) in den Feuilletons von „Welt“ über „Die Zeit“, „FAZ“ bis „Tichy“ lesen kann? Seit wann ist die Befindlichkeit einer Journalistin im Feuilleton der Maßstab für die Qualität der Forschung? Und, wichtiger, warum eigentlich?

Sie lernen nicht, globale Probleme objektiv zu erfassen, sondern sie durch eine hochgradig „antiimperialistische“ Agenda zu filtern. Ein Workshop, den Dietze zu „Ethnosexismus und Migration“ anbot, befasste sich etwa mit „abendländischen Überlegenheitsnarrativen, zum Beispiel der Demokratie als der besten aller Regierungsformen, der Säkularität als der besten aller Rationalitäten“. Womit „der Überzeugung“ widersprochen werden sollte, dass die westliche Welt über „ein maximal fortgeschrittenes sexuelles Regime“ verfüge. Die Verächtlichkeit gegenüber Rechtsstaatlichkeit und Religionsfreiheit, die sich durch diese Botschaft aus dem akademischen Paralleluniversum zieht, ist ebenso offenkundig wie die Faszination für religiös legitimierte Diktaturen, in denen es weder das eine noch das andere gibt.

Eine Gabriele Dietze macht noch keine Gender Studies insgesamt. Eine Paula-Irene Villa, eine Sabine Hark oder ein Stefan Hirschauer übrigens auch nicht. „Antiimperialismus“ habe ich in meinem ganzen Studium nicht gehört – außer bei den etwas nervigen MG-Gruppen – und auch seitdem nicht; nicht während der Dissertationsphase, nicht in Hannover im Rahmen der Gender Studies (womöglich erwartbar, denn da haben Teile der Bahamas-Szene studiert) und auch sonst nirgends. Ich habe vielfach Tagungen der Gender Studies organisiert und war im Vorstand der einschlägigen Fachgesellschaft: kein Antiimperialismus nirgends. Und, wiederum, wenn doch mal Antiimperialismus eine Rolle mal spielen sollte (die ich übersehe): Was wäre daran an sich so empörenswert, so scheinbar offensichtlich falsch, so schlimm? Denkverbote anyone? 
Die Faszination für religiös legitimierte Diktaturen mag die ein oder andere Arbeit motivieren, z. B. hat Ina Kerner in Pakistan geforscht und vor Ort zu den Verflechtungen von Frauenrechten, Feminismus und Zivilgesellschaft gearbeitet. Ansonsten aber wäre mir völlig neu, dass die Gender Studies irgendeine Affinität zu Taliban or alike hätten.
@“objektive Erfassung von Problemen“ in den Sozial-, Kultur-, Geisteswissenschaften, auch in den Naturwissenschaften: Epistemologie 101 anyone?

Auch auf den ersten Blick unpolitisch daherkommende Variationen des Sündenbock-Prinzips finden sich in den Gender Studies zuhauf. Prominent vertreten wird das antimännliche, antiheterosexuelle Ressentiment etwa von Lann Hornscheidt, bis 2016 „Profx“ für Linguistik an der HU Berlin. Die sich selbst als „geschlechtslos“ fühlende Person fordert auf der Website xart splitta wortwörtlich zu „Interventionen“ gegen das cis-männliche Patriarchat auf. Damit meint sie weder Regime wie Saudi-Arabien oder das Afghanistan der Taliban, sondern die letzten Reste der bürgerlichen Gesellschaft: „sätze in romanen unlesbar machen, seiten in büchern rausreissen“, lautet ein Handlungsvorschlag von Lann Hornscheidt zur Bekämpfung von Prosa oder Analysen, die dem Gender-geschulten Bewusstsein nicht behagen.

Hach ja. Davon abgesehen, dass Lann Hornscheidt nicht mehr an der Universität tätig ist, was sagt uns wiederum dies über die Gender Studies? Lann schrieb auf Lanns Homepage:
„Wenn Sie mit Lann Hornscheidt Kontakt aufnehmen wollen, verwenden Sie bitte respektvolle Anreden, die nicht Zweigeschlechtlichkeit aufrufen. Bitte vermeiden Sie zweigendernde Ansprachen wie „Herr ___“, „Frau ___“, „Lieber ___“ oder „Liebe ___“. Es gibt nicht die eine richtige und gute Anrede, sondern es bedarf respektvoller neuer Anredeformen – ich freue mich auf Ihre kreativen anti-diskriminierenden Ideen.

 Falls Sie nicht kommunizieren, sondern nur Ihre Irritation zurückwerfen wollen, statt sie als Impuls für sich zu benutzen über eigene Normen und Weltbilder nachzudenken, dann schicken Sie dies bitte an folgende Mail-Adresse: hatemail.an.hornscheidt@gmail.com

. Oder – Sie nehmen sich die Zeit, um was Nettes und Respektvolles stattdessen an eine Person Ihrer Wahl zu schreiben – und schauen mal, wie sich eine solche Handlung anfühlen würde.“

Liest sich das wie Ressentiment? Eben. Und: Das solle L. Hornscheidt erst dürfen, wenn Lann sich kritisch mit allen Regimes – oder doch nur mit Saudi-Arabien oder Afghanistan – auseinandergesetzt und andere aufgefordert hätte, es nach zu tun? Klingt leicht nach Sprechverbot. Aber das wäre eine böse Unterstellung, die dem Text hier nicht gerecht würde.

Über ein universitäres Milieu, in dem Christina von Braun, Gabriele Dietze, Sabine Hark, Lann Hornscheidt oder Bettina Mathes als herausragende Denkerinnen gelten, ist schon viel gesagt. Diese Akademikerinnen stehen exemplarisch dafür, dass Gender Studies heute über weite Strecken eine Mischung aus Ressentiment, Gruppentherapie und antiimperialistischer Ideologie sind. Phrasen, Vorbehalte und Schuldbewusstsein tummeln sich, wo es um Erkenntnis gehen sollte.

Über ein journalistisches Milieu, in dem Alice Schwarzer, als herausragende Autorin gilt, ist schon viel gesagt … Genau, ist doch blöd, unproduktiv, falsch.

Auf einem Postkolonialismus-Symposium an der HU verkündete eine gleichgestimmte Dozentin 2011 folgerichtig Sinn und Zweck ihrer Lehrveranstaltungen: „Ich will, dass sich meine Studierenden einmal richtig schlecht fühlen.“ Gemeint war, dass in Deutschland geborene und aufgewachsene Individuen Scham dafür empfinden sollten, westlicher Herkunft zu sein.

Das ist unerträglich, indeed. Mir sind solche Situationen bislang im Feld der Gender Studies nicht begegnet. Und nun? Aussage gegen Aussage.

Die sich mittlerweile häufenden Einsprüche gegen die Geschlechterforschung werden derweil zu einem Popanz namens „Anti-Genderismus“ aufgebauscht, um sich selbst als bloße Opfer einer gesellschaftspolitischen Regression zu stilisieren. Dass ein Gutteil der Zweifel an den Gender Studies nicht von Hass, Menschenverachtung oder Vorbehalten rechtslastiger Reaktionäre motiviert ist, sondern schlichtweg durch Skepsis angesichts des Zustands der Gender Studies, wird verschwiegen.

Wovon ist hier genau die Rede? Im von Sabine Hark und mir herausgegebenen Sammelband „Anti-Genderismus“ (ein internationaler dazu erscheint in ein paar Wochen, von wegen internationale Debatten usw.) sind Beiträge versammelt, die sich mit ausdrücklichen Diffamierungen, Abwertungen, Attacken rund um „Gender“ befassen. Die Empirie dazu sind kirchliche Kreise, Rechtspopulismus, fundamentalistische Redeweisen. Was wird denn da verschwiegen? Die gewissermaßen interne, gleichwohl harsche und polemische Kritik an den Gender Studies vonseiten der Wissenschaft ist entweder bekannt und Teil der Gender Studies – Stefan Hirschauer z. B., etwa hier – oder sie wird im Sammelband z. B. analysiert. Sämtliche Beiträge, die ich kenne, die sich als Einsprüche gegen das Feld artikulieren, kennen den „Zustand der Gender Studies“ nicht nur nicht, sie wollen hier auch nicht allzu genau hinschauen. Ich fürchte, das gilt auch für diesen „EMMA“-Text von VSV.
Ich teile aber ernsthaft ein Stück weit die hier mit Wohlwollen interpretierbare Kritik daran, dass sich das Feld der Gender Studies nicht hinreichend mit der fundierten und plausiblen Skepsis auseinandersetzt. Auch ich bin bisweilen entnervt von der allzu schlichten Politisierung und dem Moralismus, der dieses Feld prägt. Da hilft nur: Forschen, theoretisch informierte Lesarten und empirische Einsichten zur Disposition stellen, fundiert und ernsthaft an der Sache – Gender Studies im obigen Sinne – interessiert streiten.

Einen Einblick in das Ausmaß der gegenwärtigen Verblödung gewährten kürzlich der Philosoph Peter Boghossian und der Mathematiker James Lindsay. Sie verfassten einen von vorne bis hinten fiktiven Artikel, der einen Kausalzusammenhang zwischen dem männlichen Genital und dem globalen Klimawandel behauptete. Den schwer mit Gender-Jargon beladenen Text schickten sie an das akademische Journal Cogent Social Sciences. Dort wurde der Beitrag kollegial begutachtet (peer-review). Niemandem fiel auf, dass der Text bar eines nachvollziehbaren Arguments war, seitenweise Nonsens aneinanderreihte und selbst manche Titel der Literaturliste frei erfunden worden waren: Der Schwindel wurde anstandslos veröffentlicht.

Der Penis-Hoax! Echt jetzt? Dieser Skandal ist keiner. Jedenfalls nicht für die Gender Studies. Es gab bekanntlich kein echtes peer review, veröffentlicht wurde der Text in einem predatory bzw. pay-to-publish journal, der für Geld quasi alles druckt, und eben keine anerkannte akademische Fachzeitschrift ist. All dies, nachdem der Text in einem Gender-Studies-Journal aufgrund eklatanter Mängel abgelehnt wurde. Das ist alles längst bekannt. Der Skandal dieser Geschichte liegt in der Erosion wissenschaftlicher Standards durch solche kommerzialisierten Publikationsformen, die ihrerseits mit dem enormen Druck zum Publizieren zu tun haben. Die Erwähnung dieser Geschichte, um die Gender Studies zu diskreditieren, die diskreditiert eigentlich den ganzen VSV-Text. Dazu gibt es hier mehr zu lesen.

Solch eklatanten Desastern zum Trotz sehen Sabine Hark und Paula-Irene Villa, Herausgeberinnen des ersten Sammelbands zum Thema „Anti-Genderismus“, in der Zurückweisung der Geschlechterforschung vor allem den Ausdruck „einer staatskritischen Haltung“. Den beiden Soziologinnen ist offenbar unbekannt, dass die Neue Frauenbewegung in den 1970er Jahren eine besonders vehemente Distanz zum Staat wahrte, was u. a. die Selbstbezeichnung autonome Frauenbewegung ausdrückte. An all dem wird der tiefe historisch-politische Graben deutlich, der zwischen Feminismus und Genderforschung liegt. Deren Zustand gibt Anlass zu der Annahme, dass die Gender Studies keineswegs eine kritische Weiterentwicklung feministischen Gedankenguts sind, sondern der Sargnagel der Frauenemanzipation.

Über diese Wirksamkeitsunterstellung würde ich mich freuen, wenn sie irgendwie mit irgendeiner Wirklichkeit zu tun hätte. Ist aber nicht der Fall. Ansonsten stimme ich zu: Es gibt einen tiefen Graben zwischen Frauenemanzipation und Gender Studies, sollte es meines Erachtens auch geben. Manche von uns, in academia und/oder in feministischen Kontexten, bauen darüber mehr oder minder wacklige Brücken, die sie öfter oder seltener betreten, manchmal allein, manchmal in Gruppen. Tote gibt es dabei nicht.

 

VOJIN SAŠA VUKADINOVIĆ studierte Geschichte und Geschlechterforschung in Berlin und Basel und arbeitet heute an der Uni Zürich.



PAULA-IRENE VILLA studierte SoWi und Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum und Buenos Aires. Sie ist seit 2008 Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU München.