Interview: Hengameh Yaghoobifarah
Transkription und Übersetzung: Lena Grehl

Im Untergeschoss des Berliner Soho House warte ich geduldig auf meinen Interview-Slot mit einer der sympathischsten und witzigsten Celebrity, die ich jemals getroffen habe. Es ist fast genau ein Jahr her, dass ich sie zum letzten Mal getroffen hatte, damals Ende März, nun Anfang April. Selbe Jahreszeit, selbe Location, allerdings damals im zweiten Stock und zur Präsentation ihrer Kleidungskollektion. Die Presseperson läuft ungeduldig zu dem Raum mit dem Glasfenster, in dem Beth gerade mit einer anderen Person spricht und gibt ihr ein Zeichen. Sie entschuldigt sich bei mir. „Wir sind eine halbe Stunde später dran heute. Beth erzählt einfach so viel.“ Dass sie viel zu erzählen hat, konnte eine*r bereits in ihrer Autobiografie „Heavy Cross“ nachlesen.

© Mary McCartney

Ein Glas Wasser und einen Chocolate Chip Cookie später öffnet sich die Tür und ich werde reingebeten. Beth steht an der Bar der edel anmutenden Lounge und kaut. Sie begrüßt mich. „Hast du diese Mandelkekse probiert? Die schmecken himmlisch!“ Zu meiner eigenen Verwunderung erinnert sie sich sogar noch an mich, meine Aufregung legt sich ein bisschen. Beth Ditto könnte auch einfach eine dieser queeren, badass Punk-Femmes sein, deren Wege sich in Berlin nicht allzu selten mit meinen kreuzen. Nur halt in berühmter.

Du hast dein erstes Soloalbum produziert. Was war für dich anders als mit Gossip?
Beth Ditto: Ich habe immer mit Leuten gearbeitet, denen ich seit sehr langer Zeit vertraue. Ich habe Nathans (Howdeshell, ehemaliger Gitarrist von Gossip, Anm. der Redaktion) Geschmack komplett vertraut und mich meistens total gut damit gefühlt, wenn er sich beispielsweise um das Artwork gekümmert oder Songs mit mir geschrieben hat. Das gab es jetzt einfach nicht mehr. Also musste ich lernen, mir selbst und anderen zu vertrauen und das war gar nicht so leicht. Aber das Ganze hat mich zwei wichtige Dinge realisieren lassen: Das Erste ist, ich wusste gar nicht, wie viel Raum ich bei Gossip eingenommen habe, denn als Feministin und jemand mit einer starken Persönlichkeit hätte ich an Tagen wie diesen wohl als Einzige geredet. Die anderen beiden haben auch teilgenommen und Dinge gemacht, aber am Ende habe immer ich geredet. Selbst, wenn sie mal etwas mehr redeten, habe ich immer mehr geredet als sie. Das Reden war also eine Sache, die mir sehr bekannt ist und bei der ich mich wohl fühle.

Ich wusste irgendwie immer, dass ich ein großer Teil von Gossip war, aber musikalisch gesehen habe ich das nie realisiert. Erst als das Album fertig war, dachte ich: „Oh, das hört sich immer noch nach Gossip an! Aber natürlich tut es das, es ist ja auch meine Stimme!“ Da habe ich nie drüber nachgedacht, ich habe nie wirklich gemerkt, wie viel von Gossip ich ausgemacht habe. Ich dachte immer, wir wären als Bandmitglieder total getrennt voneinander in dem, was wir tun, aber es war interessant zu lernen, dass dem nicht so ist.

© Mary McCartney

Die zweite Sache, die ich gelernt habe, ist, Menschen zu vertrauen, wie offen und verletzlich man ist. Auch wenn ich Nathan zum Beispiel seit Kindestagen kenne: Es hat Jahre gedauert, bis ich in der Lage war, vor ihm oder Hannah zu singen. Wenn ich aufgenommen habe, mussten sie den Raum verlassen. Wenn ich Songtexte geschrieben habe, dann hab ich ihnen nicht die Texte ausgehändigt – auch wenn es das Aufnehmen viel einfacher gemacht hätte. Ich hatte sehr viele Selbstzweifel und war so verletzlich, es hat Jahre gedauert, bis ich es zusammen mit ihnen da raus geschafft habe. Ich musste also sehr schnell lernen, mit Jen (Jennifer Decilveo, Produzentin des Albums, Anm. der Redaktion) zu arbeiten, einer queeren Frau. Genauso wie mit der A&R, die auch eine ist, was total cool ist und mir total viel Energie und Treibstoff gegeben hat, um einfach weiterzumachen und den Sinn dahinter zu spüren.

Es gab einen guten Grund, fernab von „Oh, es ist mal wieder Zeit, ein neues Album zu machen.“ Das hat sich einfach sehr natürlich entwickelt. Außerdem hat es sich so gut angefühlt, von weiblichen Bossen umgeben zu sein. Nicht nur weiblich, sondern auch gay! Dass das so selten ist, habe ich erst realisiert, als wir drei für ein Geschäftsessen zusammenkamen. Talya, Jen und ich – A&R, Produzentin, Writerin/Sängerin haben sich einfach unterhalten. Da gab es einen Moment, in dem ich kurz innehalten musste, um wertzuschätzen, dass wir uns gerade auf einem Geschäftsessen befinden, um ein neues Album zu produzieren und es sitzt keine heterosexuelle Person am Tisch. Nicht mal eine männliche Person! Mir ist das noch nie passiert. Es hat sich großartig angefühlt, aber auch total unzeitgemäß. Aber ich denke, so ist das in jeder Kunstbranche.

Ja, ich kann mir vorstellen, wie bestärkend es sein muss, Musik immer noch als queerfeministisches Projekt herausbringen zu können.
Nach all diesen Jahren mit Gossip ist es irgendwie noch spannender, befriedigender und erfüllender zu wissen, dass das, was du tust, immer noch eine Art Spur hinterlässt. Es ist irgendwie traurig, aber auch ziemlich cool.

Dein neues Album hat einen ziemlichen 1950er-Jahre Vibe. Wenn du ein Moodboard für dein neues Album kreieren müsstest, wie wäre der Style? 
Da wäre wahrscheinlich mehr Augen-Make-up, Frisuren und viel Farbe.

Weniger goth?
Ja, ich wollte wirklich, dass alles sehr bunt ist. Das Schöne an Nathan und der Balance zwischen uns ist wohl: Wenn ich eine Wolke bin, dann wäre er die black flight bars. Er war schon immer so und das macht auch die Kombination aus uns so gut, aber dieses Mal wollte ich einfach alles bunt haben. In meinem Kopf ist sogar die Dunkelheit bunt. Ich sehe außerdem viele Wirbel auf meinem Moodboard. Twiggy Augen-Make-up, aber so viel mehr von Mama Cass. So viel mehr von ihrem Stil. Die Leute haben sich immer über sie lustig gemacht, aber haben ihr nie wirklich Credits für ihren wirklich coolen Style gegeben. Es war nie sehr eng, nie übersexualisiert – in einer Zeit, in der man sich für seinen Körper schämen sollte und ihn deswegen nie wirklich gezeigt hat. Für mich kommt dabei aber das Gegenteil heraus, denn es lässt dich dicker aussehen und lässt dich mehr Raum einnehmen, alles fließt und ist frei beweglich und gemütlich und fühlt sich gut an. Das habe ich an ihr geliebt, denn das war ein ziemlich großes Ding für mich als kleines Mädchen. Sie wäre auf jeden Fall ein großer Teil des Moodboards, neben großen, fließenden Sachen und langen braunen Haaren und keinem Make-up. Das ist so anders als das, was man von den Fat-Positivity-Bewegungen heutzutage kennt und auch anders als das, was man von mir kennt. Sie war einfach schwer und schlicht, das finde ich cool.

© Mary McCartney

Wirst du oft mit ihr verglichen? Wir hatten mal einen Artikel über ein Comic im Missy Magazine, da ging es um Mama Cass und sie wurde als Beth Ditto avant la lettre gehandelt.
Das Ding bei uns beiden ist wohl, sie war ihrer Zeit wirklich sehr weit voraus mit den Dingen, über die sie geredet hat. Sie war immer komplett gegen die Ehe, hat ein Kind allein großgezogen, viele Drogen genommen etc. Darüber hört man nicht so viel. Die Leute sagen eher so Dinge wie: „Oh, guck dir an, was für ein Partytier sie war.“ Aber eigentlich war sie total irre. Sie war eine Frau der Stunde. Man hat jedoch nie von ihrer Persönlichkeit gesprochen. Das ist ein Punkt, in dem wir uns sehr unterscheiden. Ich habe nie Heroin genommen, werde ich auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich wirklich oft mit ihr verglichen werde, aber ich wäre froh darüber. Als kleines Mädchen waren Miss Piggy und Mama Cass meine Ikonen, meine Idole. Ich hab sie so geliebt. Und da gab es nicht so viele Sachen, das war dann alles, was ich hatte. Tracy Turnblad (aus dem Musicalfilm „Hairspray“, Anm. der Redaktion) gab es natürlich auch noch, aber das war nicht dasselbe. Mama Cass war alles für mich.

Am Himmel dicker Ikonen bist du eine der am meisten erwähnten, besonders unter dicken Queers. Viele Menschen sagen: „Beth Ditto ist meine Heldin!“
Das ist total süß!

„Fake Sugar“
Beth Ditto
Sony Music

Ich habe mich gefragt, ob du glaubst, dass sich die Dinge geändert haben, seitdem du im Musikbusiness bist?
Ja, oh ja! Als ich 18 war, also so um 1999/2000 rum, gab es keine wirklich dicken Künstler*innen im Musikgeschäft. Frauen sowieso nicht. Die 1960er-Jahre waren anders, in den 1980ern gab es Romeo Void, Alison Moyet, sogar Männer. Ich habe darüber letztens mit Kim Gordon von Sonic Youth gesprochen, dass es kaum dicke Menschen im Punk gab – die Einzige, an die wir uns erinnern konnten, war Alison Moyet. Dicke Menschen waren einfach nicht so sichtbar, es wurden keine Nacktfotos von ihnen gemacht. Das Internet war auch noch nicht so wie heute, es war ziemlich schwer, Zugang zu kriegen und nur reichen Menschen vorbehalten. Genauso war das mit Handys. Man konnte also nicht einfach auf Instagram unglaubliche Bilder von Mädchen oder Jungs in Bikinis oder oben ohne sehen. Das gab es einfach nicht. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass man deswegen einsam war, aber man hatte viele Fragen, die man sich dadurch nicht selbst beantworten oder von allein verstehen konnte. Es musste also in kurzer Zeit viel gesagt werden und ich habe für die Hälfte der Menschen gesprochen, die gesehen werden wollten. Manchmal macht man das nicht so, wie die Leute es gerne hätten und das kann man auch nicht, wenn man nur eine Person ist.

Mittlerweile ist das anders, es ist schön, Leute wie Adele zu haben, sie war die ganze Zeit dabei. Wir haben Britney Howard, Elle King und Tess Holliday. Aber wenn man darüber nachdenkt, gibt es auch da nicht besonders viele Women of Color, die in dieser Debatte einbezogen werden. Es hat sich also viel getan. Das Internet hat sich so sehr verändert. Es ist eine sehr starke Konsumhaltung entstanden. Personen des öffentlichen Lebens werden automatisch zu Marken erklärt. Das merke ich an mir selber gerade sehr stark. Wann bin ich eine Marke geworden? Ich bin ein Mensch, keine Marke! Das ist komisch. Aber manche Menschen haben die Persönlichkeit, um das durchzuziehen. Ich denke, Tess hat sie. Ich bin zwar nicht immer total okay mit dem, was sie macht, aber wir befinden uns auch in zwei unterschiedlichen Bewegungen, es ist nicht immer unbedingt dieselbe. Ich komme von der queerfeministischen Punkrock-Bewegung und ich denke, ihre ist ein bisschen anders, trotzdem versuchen viele, das unter einen Schirm zu bringen. Aber es gibt so viele von uns, die nach unterschiedlichen Gründen handeln.

In Missy 04/17 spricht Beth Ditto über ihre Liebe für Cat Power.