Von Sonja Eismann

Warum eigentlich immer nur kuschelige Tiere? Warum macht niemand süße GIFs von Schaben, Würmern oder Krabben? „Niemand mag mich“, seufzt ein Riesenshrimp in „Cry Me A River“. „Die Leute mögen Kätzchen und Hunde, putzige, flauschige Tiere … von mir macht niemand niedliche GIFS.“ Doch der männliche Protagonist in Alice Socals zweiter Graphic Novel ist anders. Als er anfängt, dem gigantischen Schalentier, das sich traurig auf seinem Küchentisch fläzt, den Rücken zu kraulen, fängt es glatt an zu weinen.

Alice Socal © Rotopol

Im neuen Comicroman der Venezianerin, die in Hamburg bei Anke Feuchtenberger studiert hat und nun als Illustratorin in der Stadt lebt, gehört diese Begegnung nicht einmal zu den seltsamsten. Das junge Pärchen, das in einem undefinierten Land in einer kleinen Ortschaft für kurze Zeit ein Häuschen bewohnt und sich dabei entfremdet, wird von LSD-artigen Erscheinungen, fantastisch-unheimlichen Träumen sowie merkwürdigen Zusammentreffen begleitet. Ob es daher kommt, dass einer der beiden süßen kleinen Hunde, die sie für eine Tante hüten sollten, gestorben und der Überlebende seitdem zutiefst depressiv ist?

©Rotopol/Alice Socal

Die Frau, die die Trennung von ihrem Partner nicht akzeptieren kann, wird von einem fröhlichen, aus einer Cereal-Packung hervorschlüpfenden Wurm geplagt, der ihr erklärt, dass ihre künstlerische Arbeit vollkommen wertlos sei. Immer wieder bricht sie in Tränen aus, die sie in Wasserflaschen sammelt, um damit Pflanzen zu gießen – wie auch verschiedenste Flüssigkeitsströme, sei es aus dem Wasserhahn, vom Wasserfall oder von einem Tränen vergießenden Graffito, ein wiederkehrendes Motiv in der expressiv gezeichneten Schwarz-Weiß-Geschichte sind.

Alice Socal „Cry Me A River“
Aus dem Italienischen von Cordula Patzig. Rotopol Press, 136 S., 16 Euro

Wie schon in ihrem Erstling „Sandro“ schert sich Alice Socal nicht um Plausibilität, stringente Narration oder klassische Charakterstudien. Stattdessen schöpft sie die Freiheiten des Mediums Comic voll aus, indem sie zwischen Wach- und Traumsequenzen ebenso hin- und herswitcht wie zwischen verschiedenen Erzählperspektiven, Realismus und Fantasy, trauriger Nüchternheit und panelsprengendem Rausch. Das ist nicht nur toll anzusehen, sondern fordert dazu heraus, eigene Seh- und Lesegewohnheiten zu hinterfragen – und vor allem, diese Story über Beziehungen und Verlust, über Alltag und Transzendenz nicht nur einmal zu lesen, sondern viele Male hintereinander.