Ich nutze seit ein paar Jahren den Begriff des Schicksalsvoyeurismus, um die Lüsternheit zu beschreiben, mit der wc-Deutsche nach jüdischen Shoah-Familiengeschichten geifern. Die Geilheit und morbide Freude in wc-deutschen Augen, wenn sie mal mehr und mal weniger direkt nach unserem – jüdischem – Überleben fragen.

Schicksalsvoyeurismus gibt es im Fernsehen wie auch in alltäglichen Begegnungen mit jüdischen Menschen. © Tine Fetz

Oft bin ich versucht, mir eine Geschichte auszudenken, die ungefähr folgendermaßen lautet: Meine Familie ist aus Lust und Laune irgendwann vor dem Nationalsozialismus in irgendein langweiliges Land (bloß nicht zu fancy oder abgefahren) gezogen und hat da von der Shoah unberührt und unbeeindruckt gelebt, bis irgendwer aus meiner Familie aus ebenso belanglosen Gründen zurück nach Schland gekommen ist. Schon bei der Vorstellung kann ich ihre fade Enttäuschung förmlich schmecken. Es ist ungefähr die Enttäuschung, die wir erleben würden, wenn ein Grimm’sches Märchen nicht davon handeln würde, wie ein Wolf kleine Geißlein verschlingt und sie ihm am Ende bei lebendigem Leibe aus dem Bauch geschnitten werden, sondern davon, wie ein Wolf und die Geißlein sich trafen, drei Worte wechselten und alle überlebten. Unglücklich gelaufen.

Jüdische Familiengeschichten sind die Schauermärchen der wc-deutschen Unterhaltungskultur. Als seien unsere Schicksale nur dazu da, Jahrzehnte später pseudointeressierten Fragenden gruselig-verzückt die Haare zu Berge stehen zu lassen. Ein historischer Splatter von und für wc-Deutsche zur intergenerationalen Unterhaltung oder so ähnlich. Ein Happy End ist schon okay, aber dazwischen muss es für den Gruselfaktor auf jeden Fall um viel Elend und Leid, Folter, Verderben und Qual gehen. Dabei sind die taktlosen, direkten, auch nach diversen Ausflüchten nicht aufhörenden Fragen nicht im geringsten unangebrachter als die aus „geschichtlichem Interesse“ oder jene, „die mich einfach kennenlernen wollen“.

„Schicksalsvoyeurismus“ soll zwei Dinge verdeutlichen:

Debora Antmann

1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog „Don’t degrade Debs, Darling!“ seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.

1. Es MUSS ein Schicksal, eine Story geben, weil a) kann ich anders nicht existieren und b) wären mein Leben und ich irgendwie eine ganz schöne Enttäuschung.

2. Es  handelt sich um die perfide Praxis, sich in irgendeiner Weise Befriedigung zu verschaffen, indem ich und meine Geschichte durch den Blick der mich betrachtenden Person fetischisiert werden. Das Gefühl, dabei „nackt“ zu sein, entsteht dadurch, dass eine (oft fremde) Person ungefragt von mir und meiner Geschichte persönliche und intime Details verlangt und dabei eine Selbstverständlichkeit performt, die es erscheinen lässt, als hätte die Person ein Anrecht darauf. Ich werde begafft, objektiviert, instrumentalisiert. Gegen meinen Willen und oft so subtil, dass ich es erst merke, wenn es zu spät ist. Schicksalsvoyeurismus ähnelt ein bisschen der Sensationsgier, die manche beim Betrachten eines Autounfalls verspüren, nur mit mehr Herrschaftsverhältnissen.

Es ist eine Form von Gewalt, die mit Sicherheit auch nicht-jüdischen Menschen begegnet. Aber ich habe das Gefühl, wc-Deutsche denken vor allem bei Jüd*innen und Menschen mit jüdischen Familiengeschichten, sie hätten ein Urheberrecht auf unsere Geschichte_n und Schicksale und das muss sich schließlich auch rentieren. Wir und unsere Geschichte_n gehören immer noch ihnen. Made by wc-Deutschen since 1933 (und schon viel länger) – wie das Brandzeichen auf dem Arsch einer Plastikpuppe, markiert woher unsere traumatischen Familienerlebnisse kommen. Aber nicht zur Verantwortungsübernahme, sondern nur als Konsumgut. Flankiert von verwaschenen Gruselbildern aus Geschichtsbüchern, für den richtigen Schauer, aber immer schön weit weg. Jüdische Familiengeschichten wie Sammelbildchen anhäufen als wc-deutscher Volkssport. Jüdische Geschichte als wc-deutsches Eigentum. Hautnah. Ich sehe sie vor mir, wie ihnen der Geifer von den Lefzen tropft, sie starren und warten, dass ich mich entblättere. Ich habe gelernt, nicht mehr zu antworten, und bleibe zur allgemeinen Enttäuschung ein verschlossenes Buch. Keine Märchen, nur Bitterheit für euch.