Von Nele Herzog

In Angie Thomas sehr erfolgreichem Debütroman „The Hate U Give“ geht es um die Ermordung des Schwarzen Jugendlichen Khalil durch einen Polizisten, den Ich-Erzählerin Starr Carter „Einhundertfünfzehn“ nennt.

Zu traumatisch ist die Erfahrung, die sie als einzige Zeugin des Mordes gemacht hat, um Klartext über den Vorfall zu sprechen. Weder mit ihrer Familie und ihrer Community, noch mit ihrem weißen Freund Chris oder dem Freund*innenkreis an ihrer überwiegend weißen Schule. Starr bewegt sich ständig im Übergang zwischen dem Habitus ihrer Heimat, der von Drogenkriminalität geprägten Nachbarschaft Garden Heights, und ihrem privilegierten Bildungsumfeld auf der Williamson High School. The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody, hätte die ebenfalls verstorbene Rapper-Ikone Tupac Shakur in verkürzter Form auf den Bauch tätowiert gehabt („THUG LIFE“), erklärt Khalil seiner besten Freundin Starr, bevor sie in die schicksalhafte Polizeikontrolle geraten.

Angie Thomas ist eine US-amerikanische Autorin © Random House/Verena Otto

Ein „Thug“, ein Gang-Mitglied, das ein Leben zwischen Deals und Schießereien führt, das ist Khalil vermeintlich für Justiz, Polizei und Medien. Sie haben damit genug Hintergrundinformation, um ihn des eigenen Todes zu beschuldigen und „Einhundertfünfzehn“ davonkommen zu lassen. Ein Vorgehen, das in den USA tatsächlich an der Tagesordnung ist und durch ein rassistisches System gestützt wird. Die titelgebende Referenz ist nur eine von vielen geschickten Stilmitteln, mit denen Thomas das klischeebehaftete Thema Drogenbanden im sozialen Brennpunkt bearbeitet und für Leser*innen vor allem jungen Alters entzerrt. Was junge Menschen in prekären Umfeldern an widrigen Erfahrungen machen, fällt zwangsläufig später auf die Gesellschaft zurück, so die leidenschaftliche Moral des Romans.

Ich habe das Buch gerade zu Ende gelesen. Ich fühlte mich zunächst mal sehr belehrt, aber nicht, als ob mir etwas eingetrichtert wurde, sondern ich wurde dazu gebracht, empathisch zu lesen. Ich mochte, dass ich als Leserin Schmerz und Wut spüren konnte, obwohl Starr während der Proteste, an denen sie teilnimmt, nicht gewalttätig handelt. Stattdessen benutzt sie ihre Stimme. Würdest du sagen, dass ihre Stimme ihre Waffe ist?
Angie Thomas: Ja, definitiv. Wenn Menschen zivilen Ungehorsam ausüben, dann ist das eine Form des Ausdrucks. Sie drücken so ihre Gefühle, ihre Rage aus. So oft denken insbesondere Teenager, dass ihre Meinungen, das, was sie zu sagen haben, nicht zählt, oder sie sind zu ängstlich, um sie auszusprechen. Starrs Stimme ist ihre Waffe, aber ich will auch, dass Teenager verstehen, dass es andere Wege gibt. Du kannst Meinung auch durch deine Kunst ausdrücken. Ich wollte zwei unterschiedliche Szenen kontrastieren: eine, in der Menschen gewalttätig werden, und nicht weit davon entfernt eine, in der Starr ihre Stimme als Waffe benutzt. Ich denke, Letztere ist so viel effektiver als die, in welcher Menschen ihre eigene Community zerstören und niederbrennen.

Starr inspiriert auch andere, sich auszusprechen. Das hat eine sich allmählich ausbreitende Wirkung, scheinbar auch auf die Leserschaft. Für die Charaktere im Buch spielt digitale Kommunikation eine wichtige Rolle. Denkst du, dass vor dem Hintergrund des Stimmenutzens und dem potenziellen Effekt davon digitaler Aktivismus funktionieren kann?
Das tut er, auf viele Arten wird die #BlackLivesMatter-Bewegung immer noch durch Social Media angestoßen. Wenn du mal daran denkst, wie vor etwa einem Jahr dieser #OscarsSoWhite-Hashtag kritisierte, wie Hollywoodfilme weißwaschen oder wir kaum Charaktere of Color zu sehen bekommen – es begann mit einem Hashtag! Jetzt muss Hollywood das bemerken und etwas tun. Social Media erlaubt uns zu realisieren, dass das, was uns stört, vielleicht nicht nur uns stört. In den Staaten gibt es die #WeNeedDiverseBooks-Bewegung. Die begann auch als Hashtag.

Autor*innen geben dem Fakt Stimme, dass wir keine marginalisierten oder Charaktere of Color in Büchern zu sehen bekommen. Da brauchte es wirklich mal ein Gespräch unter Autor*innen, die ähnliche Probleme damit haben, damit es eine gewaltige Bewegung werden konnte, bei der viele Menschen sich nicht damit einverstanden zeigten. Mittlerweile bemerkt es auch das Verlagswesen. Hashtags funktionieren.

© Random House/Verena Otto

Wenn du deinem jüngeren Anfängerselbst etwas raten müsstest, was wäre es?
Schreib für dich, schreib die Geschichte, die du schreiben willst und vor der du vielleicht sogar Angst hast.

Hattest du Angst davor, diese Geschichte zu schreiben?
Ja, ich hatte große Angst davor, dieses Buch zu schreiben. Als ich ein Teenie war, gab es die „Bis(s)“-Serie und die „Hunger Games“-Bücher, keine von beiden Hauptcharakteren sah aus wie ich. (lacht) Also dachte ich, wenn ich erfolgreiche Autorin werden will, muss ich Geschichten erzählen, die der Masse gefallen. Aber die Dinge ändern sich und Menschen wollen von Menschen lesen, die nicht wie sie selber sind. Also tu, was du tun willst, und nicht das, wovon du denkst, du müsstest es.

Starr ist zudem auch ein wütendes Schwarzes Mädchen.
Also ich würde nicht sagen, dass Starr wütend ist, ich würde sagen, sie ist leidenschaftlich, verletzt und frustriert. Ich denke, dass auch viele meiner eigenen Emotionen herauskamen, als ich diesen Charakter schrieb. Aber für so viele von uns sind diese Probleme persönlich, also nehmen wir sie auch persönlich. Sie nimmt es (Khalils Tod, Anm. der Autorin) persönlich. Ja, sie hat ihre Wut, aber im Kern davon findet sich auch unendlicher Schmerz. Du brauchst nur einmal mitkriegen, wie ein junger Schwarzer durch einen Polizisten getötet wird und die Justiz keine Gerechtigkeit durchsetzt, dann wirst du frustriert. Als es Starr in ihrem Lebensumfeld trifft, ist sie verletzt, weil dasselbe System, von dem ihr erzählt wurde, dass es für sie ist, auf einmal gegen sie funktioniert. Menschen müssen das nicht einmal miterleben, um diese Emotionen zu teilen.

Welche Rolle spielte es für dich, afroamerikanische Umgangssprache zu benutzen, dich nicht einer Standardform der Sprache anzupassen?
Ich wollte so schreiben, wie die Leute um mich herum sprechen. Ich dachte, dass so die authentischste Geschichte zustande kommt. Außerdem tut Starr etwas, was wir „Code Switching“ nennen: Sie wechselt zwischen afroamerikanischer Umgangssprache und regulärem Englisch. Ich wollte also einen Charakter einführen, der beides tut, aber dann auch welche dabeihaben, die es nicht tun. Ihr Vater Maverick benutzt mehr Umgangssprache als beispielsweise ihr Onkel Carlos, aber sie sind beide intelligente Männer. Ich wollte die Frage aufwerfen: Determiniert die Art, wie jemand spricht, automatisch dessen Intelligenz? Die Antwort ist nein: Maverick ist ein sehr intelligenter Charakter, er spricht nur auf eine bestimmte Art.

Wie kam es dazu, dass du für das „Young Adult“-Genre, für junge Erwachsene schreibst?
Ich sehe mich ehrlich gesagt nicht für Erwachsene schreiben, denn sie sind langweilig. Ich denke „Young Adult“ (YA)-Literatur ist eine sehr progressive Form der Literatur. Du kannst darin Bücher finden, die sich mit Themen beschäftigen, an die sich Erwachsenenliteratur überhaupt nicht heranwagt. YA-Bücher beschäftigten sich mit LGBTQ-Charakteren, als Erwachsenenbücher das noch nicht taten. Und Jugendliteratur zeigt eine rohe Weltsicht: Teenager sind roh, sie halten sich nicht zurück, sie werden ehrlich und brutal sein. Warum also nicht auf die gleiche Art für sie schreiben?

Aber diese Geschichte wollte ich auch für die Kids aus meiner Nachbarschaft schreiben, die sich selbst nicht genug in Büchern repräsentiert sehen. Außerdem sind, das Thema des Buchs betreffend, die echten Opfer selbst oft junge Erwachsene. Trayvon Martin war 17, als er starb, Michael Brown war 19, Tamir Rice war 12. Sie sind die Zielgruppe.

Ich finde die Analogie zwischen Gangs und den Hogwarts-Häusern aus Harry Potter aus dem Buch interessant. Es gab mir zu denken, weil nicht alle der Häuser in Harry Potter an vorderster Front mitkämpfen, wenn es zum Krieg in der magischen Welt kommt. Gibt es friedliche Gangs, friedliche Gang-Mitglieder?
Was viele nicht wissen, ist, dass die Gang-Kultur in den Staaten ihren Ursprung darin hat, dass es einfach Gruppen waren, die eine Schutzfunktion für alle Mitglieder hatten. Es ging nicht um Gewalt, es war eigentlich oft ein Schutz vor Polizist*innen! Viele von ihnen begannen als Hufflepuffs. Sie hielten sich raus. Jemand hat mir gesagt, dass J.K. Rowling das mitbekommen hat, lustig fand und einverstanden ist, also fühle ich mich darin sehr bestätigt. (lacht)