Von Azadeh Sharifi[1]

Eine persönliche Einführung
Meine Freude auf die Premiere von „Mittelreich“ in der Regie von Anta Helena Recke kannte keine Grenzen, denn ich wusste über anderthalb Jahre zuvor von der Inszenierung. Genauer gesagt saß ich in der Jury des Programms Homebase im Förderfonds Darstellende Künste e.V. – der die Produktion letztlich auch finanzierte. Es hat mich und meine Schwarze Kollegin große Überredungskunst gekostet, unsere sehr klugen, doch in der Hinsicht kritischen weißen Kolleg*innen von der Notwendigkeit dieser Arbeit zu überzeugen. Die Frage, die im Raum stand, war: Welchen Mehrwert hätte eine Produktion, deren „einzige“ Idee eine Umbesetzung einer bereits existierenden Inszenierung mit einem komplett Schwarzen Ensemble sei?

Das Ensemble, v.l.n.r. (stehend): Victor Asamoah, Moses Leo, Jerry Hoffmann, Yosemeh Adjei, (sitzend): Ernest Allan Hausmann, Isabelle Redfern © Judith Buss 2017

Meine Schwarze Kollegin und ich hatten eine Antwort darauf: eine wichtige dekoloniale Perspektive auf die deutsche Geschichte und Geschichtserzählung sowie auf das deutsche Stadt- und Staatstheater und der Versuch eines Einschreibens in diese.

Mittelreich – eine Schwarz-Kopie
Schwarz-Kopie ist der Begriff, den Julian Warner, der Dramaturg der Produktion, bei der Einführung vor der Premiere von „Mittelreich“ verwendete, um die Idee hinter der „Eins-zu-Eins“-Kopie einer bereits in den Münchner Kammerspielen abgespielten Inszenierung (unter der Regie von Anna-Sophie Mahler) mit einem komplett Schwarzen Ensemble zu beschreiben. Schwarz-Kopie ist ein Wortspiel, das als Synonym auf „illegale“ Kopien (Raubkopien) verweist. Es verweist aber auch auf Schwarz als selbstgewählte Bezeichnung von Schwarzen Menschen und die gesellschaftspolitische Zugehörigkeit. Es verweist, wie Julian Warner anmerkt, aber auch auf die Appropriation Art, eine Kunstform aus den bildenden Künsten, die sich mit der Kopie bereits existierender Kunstwerke beschäftigt. Dabei geht es unter anderem darum, sich in die weiße und heterenormative (Kunst-/Theater-/Nations-)Geschichte einzuschreiben und eine Sichtbarkeit von exkludierten und marginalisierten Körpern und Subjekten herzustellen. Hier sei auf das Beispiel des Gemäldes „Jazzcats Crossing the Hudson“ von Jeff Jank verwiesen, der das berühmte Gemälde „Washington Crossing the Delaware“ kopiert, um Schwarze Jazzmusiker in die US-amerikanische Geschichte einzuschreiben.

Mit dem Schwarzen Ensemble sind nicht nur die Theatermachenden (Schauspieler*innen, Regisseurin und Dramaturg, …) gemeint, sondern eben auch die Musiker*innen und der Chor auf der Bühne, das gesamte Team eben. „Mittelreich“, eine Adaption des Buchs von Joseph Bierbichler, handelt von einer Familie über drei Generationen in Bayern, die Geschichte zieht sich vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit Deutschlands. Die Inszenierung von Anna-Sophie Mahler – und damit auch Anta Helena Reckes – konzentriert sich auf die Nachkriegszeit und die Totenmesse für den verstorbenen Vater als Metapher für die deutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. So weit so gut. Was ändert ein Schwarzes Ensemble daran?

Über die Autorin
Azadeh Sharifi ist promovierte Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Aktivistin. Seit Oktober 2016 arbeitet sie an ihrem PostDoc-Projekt „(Post)migrantisches Theater in der deutschen Theatergeschichte – (Dis)Kontinuitäten von Ästhetiken und Narrativen“ am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Mittelreich in Schwarz – die Dekonstruktion einer weißen deutschen Geschichte

In „Mittelreich – die Schwarz-Kopie“ wird die Geschichte Deutschlands aus einer Schwarzen Perspektive erzählt, ohne eben die Handlung zu verändern. Die Anwesenheit von Schwarzen Körpern und Subjekten auf der Bühne verweist auf die Anwesenheit von Schwarzen Menschen in Deutschland und deutscher Geschichte, die aber von der Geschichtserzählung ausgeschlossen und damit unsichtbar gemacht wurden. Auf der Bühne ist eine mittelreiche („nicht reich und nicht arm, mittelreich eben“) Schwarze Familie zu sehen, deren Schicksal (ebenso) von patriarchalen Strukturen sowie den Traumata der beiden Weltkriege gezeichnet ist. Das zentrale Thema ist meines Erachtens, wie ein selbstbestimmtes Leben und Identitätsbildung durch „toxic masculinity“ in Erwartungen und Haltungen verunmöglicht werden. Diese wird eben auch durch die mitschuldige Mutter perpetuiert, die die selbst erfahrene sexualisierte Gewalt totschweigt.

©Judith Buss 2017

Der Blick auf Deutschland ist einer der Hinterfragung von Gewalt und Konstruktionen von Männlichkeit. Aber der Blick auf Deutschland ist hier insbesondere einer, durch den weiß als Norm für das Deutschsein hinterfragt wird. Wann war Deutschland überhaupt und jemals weiß, wie es sich die Pegida und AfD, Sarrazin und Buschkowski jetzt herbeiwünschen? Es sei hier aber auch auf Theaterkritiker*innen wie Bernd Noack verwiesen, der in der „NZZ“ schreibt: „Es ergibt keinerlei Sinn, dass der alte Bauer nicht mehr die voralpenfrische rosige Hautfarbe hat; und dass der Chor der Flüchtlinge jetzt wie eine Gruppe Migranten aus unseren Tagen aussieht, trägt auch nicht unbedingt zum tieferen Verständnis dieser eigentlich rein deutschen Geschichte bei, die von Welt- und Nachkriegszeiten, von geplatzten deutschen Träumen, von in der BRD dumpf nachhallendem Nazismus, wachsenden Vorurteilen und sexuell übergriffigen Katholiken erzählt.“

Muss eigentlich immer noch (und immer wieder) darauf verwiesen werden, dass der Zweite Weltkrieg für den Versuch der Auslöschung der Diversität in Deutschland steht? Weißsein ist die Konstruktion, Diversität war schon immer die Realität in Deutschland!

Das Hinterfragen der deutschen Stadt- und Staatstheater als weiße Räume
Zu Anfang habe ich darauf verwiesen, dass ich schon länger von der Produktion wusste. Denn die Idee für eine Inszenierung hatte Anta Helena Recke seit Längerem. In ihrer mehrjährigen Arbeit als Regieassistentin bei den Münchner Kammerspielen hatte sie eben bei der Produktion von Anna-Sophie Mahler mitgearbeitet und sich auch die Frage gestellt, warum die Kammerspiele und überhaupt die deutschen Stadt- und Staatstheater ein weißer Raum sind? Auch ich habe mich das schon in vielen Artikeln und wissenschaftlichen Beiträgen gefragt.

Die Inszenierung von „Mittelreich“ mit einem Schwarzen Ensemble ist eine Replik mitten aus der deutschen Realität heraus auf die weißen Stadt- und Staatstheater. Sie ist aber eine von vielen. Schwarze Theatermacher*innen und Theatermacher*innen of Color – etwa Simone Dede Ayivi oder Atif Hussein –, aber eben auch Theaterhäuser wie das Ballhaus Naunynstrasse haben gerade in den letzten Jahren dieselbe Frage gestellt und mit unterschiedlichen ästhetischen, aber auch kulturpolitischen Ansätzen beantwortet.

©Judith Buss 2017

Aber auch in der Antwort – oder Inszenierung – von Anta Helena Recke lassen sich unterschiedliche Ebenen finden. Auf einer der vielen Ebenen zeigt sie, dass Schwarze Theatermacher*innen (und Theatermacher*innen of Color) genauso gut jede Figur auf der Bühne darstellen können und dass es eben die politische (und wahrscheinlich unbewusst eine rassistische) Entscheidung von Intendant*innen und Regisseur*innen ist, diese nicht zu besetzen.

Die Ausrede „Wir würden jeden engagieren, den wir gut finden! Aber es gibt da nicht so viele.“  war also gestern! Beim Publikumsgespräch nach der Premiere hat der Kurator der Münchner Kammerspiele, Christoph Gurk, auf die Frage, warum die Schauspieler*innen nicht im Ensemble seien, zunächst zögerlich, aber dann mit einem Zugeständnis darauf verwiesen, dass die Produktion auch eine Kritik und Anlass zum Nachdenken für das eigene Haus sei.

Decolonise the Art and Theatre Critique!
Zum Schluss möchte ich noch einige Worte an die Theaterkritiker*innen richten, denen es offensichtlich an theaterästhetischem Wissen und Sprache fehlt, was eine Auseinandersetzung mit „solchen“ (postkolonialen, dekolonialen, an der eurozentristischen/weißen Perspektive Kritik übenden) Theaterproduktionen angeht. Vielleicht könnte dann die Diskussion über Beschreibungen von „Hautfarben“ hinausgehen und endlich einen produktiven Diskurs über race in Deutschland ermöglichen?

Eine der Kritiken ist in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen und stammt von Eva-Elisabeth Fischer. Die Sprache und auch das fehlende Geschichtsbewusstsein haben mich zu diesem Beitrag bewogen. So beginnt die Kritik mit einer höchst problematischen Metapher über Blut, „Blutleere“ und „Blutzufuhr“, um die beiden Inszenierungen zu „unterscheiden“. Es wird dann in Parenthese angemerkt, dass dies (aus der Sicht der Autorin „positive“) Vorurteile bedienen würde.

©Judith Buss 2017

Sie geht dann auf die Schwarze (US-amerikanische) Bürgerrechtsbewegung ein, deren Slogan „Black is beautiful“ sich Anta Helena Recke bediene, die aber doch schon über 60 Jahre existiere und für die Kritikerin „ziemlich irritierend“ sei. Hier bin ich natürlich als Woman of Color irritiert, weil Schwarze Menschen sowie auch People of Color jeden Tag von Rassismus in Deutschland betroffen sind, im Alltag und strukturell und nur durch (Selbst-)Empowerment ein selbstbestimmtes Leben führen können – also woher kommt ihre Irritation?

Fischer schreibt dann: „Recke erklärt die Hautfarbe wortreich zum Politikum der Aufführung“, um dann zu zwei Sätze später „festzustellen“: „So schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht“. Dass in der Art und Weise, wie „über“ die Inszenierung geschrieben wird, dass sowohl in der Sprache wie auch in der Perspektive rassistische Strukturen reproduziert werden, ist das Problem und das Politikum.

Der Regisseurin Anta Helena Recke und ihrem Dramaturg Julian Warner – aber auch sicherlich den Entscheidungsträger*innen bei den Münchner Kammerspielen – war klar, dass eine Einführung und ein Nachgespräch für ein Verstehen der künstlerischen und theoretischen Ansätze der Produktion notwendig sein würden. Schließlich wird erst jetzt die deutsche Kolonialgeschichte aufgearbeitet und postkoloniale sowie dekoloniale Theorien als wichtige Instrumentarien der theoretischen sowie praxisorientierten Auseinandersetzung mit dieser an öffentlichen Institutionen (Kulturinstitutionen, Universität, Verwaltung etc.) anerkannt.

Dieses Angebot der Aufarbeitung zu nutzen, würde sicherlich auch den genannten (und vielen weiteren) Theaterkritiker*innen guttun, um endlich eine kritische Perspektive auf die eigene (immer noch fast durchgängig weiße) Position zu werfen und das eurozentrische Kunstverständnis beim Verfassen der Kritik zu hinterfragen.

 

[1] Ich möchte mich bei für den Support (Kritik und Anmerkungen) bei meinen Freund*innen Anneke Gerloff, Julia Lemmle, Lisa Scheibner und anderen Herzensmenschen bedanken!
Twitter-Zitat von Gabby Noone: „behind every strong woman is 5 other strong women who proofread her email real quick when they had a second“