Von Carola Ebeling

Die Liebesgeschichte zwischen der Schriftstellerin Maggie Nelson und dem*der Filmemacher*in Harry Dodge währt etwa ein Jahr. Die beiden sind inzwischen zusammengezogen, als Harry in einem Streit den Satz herausschleudert: „Du hast über jeden Aspekt deines Lebens geschrieben, nur über diesen nicht, den queeren.“ Woraufhin Maggie erwidert: „Ich bitte dich … Ich habe noch nicht darüber geschrieben.“ Beide hatten recht. Denn die 1973 geborene US-amerikanische und heute in Los Angeles lebende Autorin Maggie Nelson hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Bücher veröffentlicht, alle mit persönlichem Hintergrund, darunter „The Red Parts: A Memoir“, in dem sie sich mit der Ermordung ihrer damals 23-jährigen Tante Jane im Jahr 1969 auseinandersetzte. Das Buch erscheint 2007. Auf einer Präsentationsveranstaltung begegnet sie zum ersten Mal Harry Dodge, geboren 1966, Bildhauer*in, Videokünstler*in und ebenfalls Autor*in.

©John D. Catherine T. MacArthur Foundation

Monate später lädt Harry sie zu einem Spaziergang ein und ihre gemeinsame Geschichte beginnt: glückstrunkene Verliebtheit, sexuelle Hingabe. Sie gründen gemeinsam eine Patchworkfamilie mit Harrys kleinem Sohn, heiraten und bekommen ein weiteres Kind.

©John D. Catherine T. MacArthur Foundation

Die Begegnung mit Harry Dodge, der*die sich weder als Frau noch als Mann identifziert und sich dem Entweder-oder entzieht, gibt schließlich den Anstoß für „The Argonauts“, das 2015 in den USA erscheint und jetzt glücklicherweise, als Erstes von Maggie Nelsons Werken, auch auf Deutsch vorliegt. „The Argonauts“ ist ein Buch über Liebe und Queerness. Es fragt danach, was es heißt, ein*e Liebhaber*in und ein Elternteil zu sein, eine Familie zu gründen, ein Kind zu bekommen, wenn all dies jenseits heteronormativer Rollenbilder stattfndet. Was ist darin abweichend, was ist sogenannt normal? Wer entscheidet darüber? Und was bedeutet es, sich der Binarität grundsätzlich zu verweigern? Sich nicht auf männlich oder weiblich, lesbisch oder schwul festzulegen? Maggie Nelson hatte sich bereits mit ihren acht vorangegangenen Büchern einen Namen gemacht, insbesondere mit ihren nicht-fktionalen Werken, in denen sie sehr eigensinnig Genre-grenzen überschreitet und oft Persönliches und Theoretisches miteinander verknüpft.

Das erwähnte Buch über ihre Tante etwa, die – wie sich über dreißig Jahre nach der Tat herausstellte – eine von sieben Frauen war, die von einem Serienmörder umgebracht wurden, handelt von sexualisierter Gewalt und davon, wie das Trauma ein Loch in eine ganze Familie reißt. „Bluets“ (2009) ist eine poetische Refexion über einen (Liebes-)Verlust und die Farbe Blau, mit Verweisen auf Ludwig Wittgensteins „Bemerkungen über die Farben“. In „The Art Of Cruelty“ (2011) wendet sich Nelson der Darstellung von Gewalt in der Kunst zu und betrachtet dafür u. a. Sylvia Plaths Dichtung, Francis Bacons Malerei und Yoko Onos Performances.

Mit „The Argonauts“ landete Maggie Nelson einen Überraschungserfolg. Sie gewann nicht nur wichtige Literaturpreise, das Buch wurde auch ein „New York Times“-Bestseller und erreichte ein größeres Publikum als zuvor. Über weite Strecken erzählt darin Nelson aus ihrem eigenen Leben, und es mag das beliebte Genre der Autobiografe gewesen sein, über das auch solche Leser*innen zur Lektüre fanden, die sich bislang wenig mit queeren Themen beschäftigt hatten. Auch hier ist das Persönliche der Kern, von dem Nelson ausgeht – sie verknüpft es mit berauschend vielen Referenzen an feministische und queere Theoretiker*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen. Viele von ihnen zählt sie zu den „vielgeschlechtlichen Müttern meines Herzens“. Eine der wichtigsten von ihnen ist Eve Kosofsky Sedgwick, eine Ikone der Queer Theory. Aber auch Luce Irigaray, Julia Kristeva, Judith Butler, Audre Lorde, Paul B. Preciado, Roland Barthes – auf seinen Text über die griechische Argonautensage, in …