Das Bildschirm-Ich
Von
Interview von Valerie-Siba Rousparast
Die kanadische Comickünstlerin Jillian Tamaki wurde in Deutschland spätestens 2015 mit der Graphic Novel „Ein Sommer am See“ bekannt, einer einfühlsamen Coming-of-Age-Geschichte, die in Zusammenarbeit mit ihrer Cousine Mariko Tamaki entstand. Letztes Jahr ist ihre experimentelle Erzählsammlung „Grenzenlos“ auf Deutsch erschienen. Trotz einer steten Ernsthaftigkeit behält die mehrfach preisgekrönte Illustratorin und Comicautorin stets ihren Witz und beweist sich trotz reduzierter Ästhetik als ausgezeichnete Beobachterin menschlicher Unsicherheiten.
„Grenzenlos“ ist eine eklektische Sammlung von Comic-Kurzgeschichten, in denen die Hauptfiguren Abenteuer und peinliche Momente erleben, singen und weinen. Was eint sie?
Das Buch enthält Kurzgeschichten, die ich zwischen 2010 und 2015 produziert habe. Ich glaube, verbindende Themen sind zufällig. Was mich beschäftigt: wie man eine moderne Person sein kann, wie man menschliche Verbindungen hält, aber auch Grenzen überschreiten – soziale und persönliche wie auch physische.
In deinen Geschichten werden die Grenzen der Wahrnehmung von Realität aufgeweicht. „1. Jenny“ etwa ist besessen von ihrer Onlinedoppelgängerin bei Facebook. Was bedeutet Identität für dich im Zeitalter des Internets?
In der Geschichte hasst Jenny ihre Spiegelversion, die nur ein Facebook-Profil ist. Aber Identitäten sind sich verändernde Ideen. Gerade in sozialen Netzwerken, wo die Identität verfremdet wird. Spiegel-Jenny scheint sich ganz gut zu schlagen, ein bisschen besser als Jenny selbst, was sie wahnsinnig macht. Ich finde es wirklich unglaublich, wie fluide Identitäten sein können. Es gab Zeiten, da habe ich mich in meiner Identität sehr stark gefühlt, und in anderen sehr entwurzelt. Der zweite Zustand ist viel interessanter, wenn auch schmerzvoll. Was das Internet wirklich gefährlich macht, sind Misinformationen, Verschwörungen, Lügen, die auf Misogynie, Rassismus, Xenophobie etc. aufbauen. Aber all das gab es schon immer. Das Internet ist also nur ein Katalysator für das, was Menschen sowieso schon falsch machen.
In einer weiteren Episode schrumpft Helen, die Hauptfigur der Story „Half Life“, bis sie fast verschwindet. Ist ihr Schrumpfen eine symptomatische Reaktion auf den gesellschaftlichen Druck, der auf ihr lastet?
Ich glaube, die stärkste Korrelation zur echten Welt in der Geschichte passiert am Anfang. Helen beginnt zu schrumpfen und erhält erst mal Komplimente. Niemand überlegt zweimal, wenn es darum geht, es positiv zu kommentieren, wenn eine Frau kleiner wird, egal weshalb. Es wird gelobt, anstatt dass sich ihre Mitmenschen Sorgen machen. Bald wird aber klar, dass sie nicht einfach Gewicht verliert, sie schrumpft wirklich und wird daraufhin pathologisiert.
Auch unsere Welt verändert sich ständig. Die politische Stimmung ist angespannt. Anpassung ist eine Strategie, um mit unangenehmen Veränderungen umzugehen – ist kämpfen eine andere?
Die aktuellen Veränderungen deprimieren mich, manchmal habe ich das Gefühl, dass wir rückwärts gehen. Aber ich bleibe optimistisch. Weil ich glaube, dass Frauen niemals aufhören werden zu kämpfen. Ihr Kampf wird von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit anders aussehen. Ein Queering der Gesellschaft nützt allen. Auch hetero und cis Personen werden davon profitieren, wenn die Binarität aufgelöst wird.
In einem anderen Interview sprachst du über die Sichtbarmachung marginalisierter Personen und Personen of Color. Ist das Teil deines persönlichen Kampfes?
Ja. Ich glaube, die „Repräsentation in den Medien“ kann viel feministische Zeit und Energie kosten. Aber ich halte sie für wichtig. Als ich in einer überwiegend weißen Vorstadt aufwuchs, suchte ich ständig nach Menschen und Bildern, die so aussehen wie ich, aber ich fand sie nur selten.
Jillian Tamaki „Grenzenlos“
Aus dem Englischen von Sven Scheer, Lettering von Michael Hau. Reprodukt, 248 S., 24 Euro
Hat sich das irgendwann verändert?
Ich bin multiracial: asiatisch, Middle-Eastern und weiß. Klar war ich mir immer darüber bewusst, „ethnisch“ zu sein, aber erst als ich in der Nähe von Toronto zur Uni ging, entdeckte ich eine kanadisch-asiatische Kultur und mir wurde klar, dass es mehr bedeutet, als diskriminiert zu werden. So viele verbündete asiatische Kids kennenzulernen gab meiner Identität Textur. Man war nicht einfach nur asiatisch, man konnte auch Künstler*in sein, ein Bro, verrückt, Sexist, Popsternchen oder ein Dummy, alles gleichzeitig.
Wann immer es um Diskriminierung und Identitäten geht, geht es auch um Macht. Sie ist immer ein Teil von Beziehungen und Identitäten, oder?
Ich glaube, wir sind an einem Punkt, wo wir Macht wirklich untersuchen: Macht im Familienleben, in der Politik, in der Arbeit, in der Wirtschaft und auf der Straße. Das Wort „Mikroaggressionen“ suggeriert, dass Macht selbst auf einer winzigen Skala ausgeübt werden kann und dabei trotzdem einen einschneidenden Effekt hat. Das ist für viele von uns eine neue Art zu denken. Wir sehen, inwiefern wir mitschuldig sind. Das tut weh, aber ist notwendig.
Wie empfindest du die derzeitige Situation für Comicautor*innen in der Literaturwelt?
Ich glaube, es gibt einen Hunger nach mehr vielfältigen Stimmen im Verlagswesen. Ich hatte großes Glück, weil es Menschen gab, die meine Arbeit gefeiert, beworben und verteidigt haben. In den Kreisen, in denen ich mich bewege, im Kontext von Indie-Comics und Bilderbüchern, sind Frauen gut repräsentiert. In Hinblick auf andere Gruppen gilt es aber, noch einen weiten Weg zu gehen. Ich würde gerne in allen Bereichen der Literaturwelt mehr Diversität sehen!
Bei aller Tragik sind deine Geschichten oft auch komisch. Sollten wir die Welt mit mehr Humor betrachten?
Sicher. Die Welt ist vollkommen absurd!
Dieses Interview erschien zuerst in Missy 06/17.