50 Shades of Grauzonen
Von
Von Mithu Sanyal
Zuerst einmal: Das Stück würde den Bechdel-Test nicht bestehen. Zwar haben alle weiblichen Charaktere Namen und sie reden auch miteinander, aber immer über Männer. Allerdings würde „Konsens“ bei einem entsprechenden Test für männliche Figuren auch durchfallen, weil die ebenfalls nahezu ausschließlich über Beziehungen reden, über Sex und sexuelle Grenzüberschreitungen. Als da wären: Ed (Torben Kessler) und Kitty (Sonja Beißwenger), seit fünf Jahren miteinander verheiratete Urban Professionals; er Anwalt, sie Pressesprecherin eines Verlags, aber zurzeit im Mutterschutz, weil sie gerade ihren Sohn Leo auf die Welt gebracht hat. Dann gibt es da noch ihre besten Freund*innen Rachel (Cathleen Baumann) und Jake (Thiemo Schwarz), sie Richterin, er Anwalt, sowie Matt, (Moritz Führmann) noch ein Anwalt, und Zara (Tabea Bettin), eine Schauspielerin. Sie alle treffen sich auf Dinnerpartys, flirten und konkurrieren miteinander und sind die Sorte von schrecklich netten Bildungsbürger*innen, über die TV-Dramen gedreht werden. Und tatsächlich ist „Konsens“ zu besuchen eher wie sich seine Lieblingsserie im Fernsehen anzuschauen. So naturalistisch ist die Handlung, so amüsant der Small Talk. Doch täuscht diese Einfachheit: Jeder Satz ist genau kalkuliert, jedes Detail eröffnet Abgründe.
So wie Kitty, Ed, Rachel und Jakin das Baby in der ersten Szene ständig von Arm zu Arm reichen, weil niemand es so richtig halten will, so will sich keine*r von ihnen auf dem Marktplatz der sexuellen Möglichkeiten Gedanken um die Konsequenzen für sich und andere machen. Bei der englischen Uraufführung in London hatten sie dafür ein echtes Baby auf der Bühne, Nina Raines eigenes Neugeborenes, was die Gespräche über Sex, Ehebruch und Vergewaltigung noch einmal beklemmender machte. Ed nämlich ist vor Gericht der Verteidiger eines Vergewaltigers. Sein Freund Matt wiederum ist Staatsanwalt in dem selben Fall, und somit theoretisch auf der Seite des Opfers (Karin Pfammacher) – allerdings ist er nicht ihr Awalt, sondern der „Anwalt der Krone“. Im Gegensatz zu Deutschland, wo es die Möglichkeit der Nebenklage gibt, sind Opfer von Vergewaltigungen in Großbritannien vor Gericht nicht vertreten. Das ändert jedoch nichts an der Prägnanz der späteren Szene im Gerichtssaal, bei der es – wie auch in Deutschland – nicht um Verstehen und Vermitteln geht, sondern darum, Schuld zu beweisen. Fragen werden nicht gestellt, um Antworten zu erhalten, sondern um die eigene Argumentation zu stützen. Dieses Frage-Antwort-Verhalten überträgt das Stück in das Privatleben. In der Beziehung zwischen Ed und Kitty sagt Ed niemals „ich entschuldige mich“, sondern nur „es tut mir leid“: Wer sich entschuldigt, gesteht eine Schuld ein, während einem auch Dinge leidtun können, für die man keine Verantwortung trägt. Dass Ed trotzdem Verantwortung trägt, versucht er zu verdrängen.
Die Regie von Lore Stefanek in Düsseldorf arbeitet die psychologischen Abgründe der Figuren heraus und legt ihre Seelen unter den Anzügen und Designerkleidern bloß. Während die eben erwähnte, vor Gericht verhandelte Vergewaltigung eindeutig und eindeutig brutal ist – eine Vergewaltigung von einem Fremden an einer Fremden –, findet die zweite Vergewaltigung, die in diesem Stück eine Rolle trägt, innerhalb des Freundeskreises statt und plötzlich ist nichts mehr eindeutig.
Nina Raine erklärt: „Ich wollte zwei sehr, sehr unterschiedliche Vergewaltigungen behandeln. Die Puristen sagen, es gibt keine Unterschiede bei Vergewaltigungen, entweder ist es eine Vergewaltigung oder es ist keine. Aber Menschen erleben Dinge sehr unterschiedlich, weil Menschen nun einmal unterschiedlich sind. Und deshalb gibt es in dem Stück zwei Vergewaltigungen vom jeweils anderen Ende des Spektrums.“ Und während die Figuren damit ringen, ob das, was passiert ist, eine Vergewaltigung oder keine Vergewaltigung war (Ed: „Du behauptest, dass ich dich vergewaltigt habe, du weißt, dass das nicht wahr ist. Ich habe dich nicht vergewaltigt.“ – Kitty: „Für mich ist es aber wahr!“), zerbrechen daran Freundschaften und Loyalitäten (Rachel: „Also, wenn du das eine Vergewaltigung nennst, entwertest du in meinen Augen den Begriff.“) und in ihrem Versuch, gut dazustehen und die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, respektive Rache zu nehmen, machen sich alle Figuren gleichermaßen schuldig – und werden zu Opfern.
Auch wenn Nina Raine die Arbeit an dem Stück bereits vor acht Jahren begonnen hat, ist „Konsens“ das Theaterstück zur #metoo-Debatte und scheut sich nicht vor Ambivalenzen. Die Fragen, wo sexualisierte Gewalt anfängt und was sexuelle Selbstbestimmung bedeutet, werden wieder und wieder in unterschiedlichen Spiegelungen durchgespielt. Trotzdem ist „Konsens“ kein Lehrstück. Es kommt ohne erhobenen Zeigefinger daher. Tatsächlich ist es sogar streckenweise schreiend komisch, so komisch, dass dem Publikum bei der Premiere in Düsseldorf immer wieder das Lachen im Hals stecken blieb. Das brillante Bühnenbild von Janina Audick (bestehend hauptsächlich aus einem Sofa und einem fünf Meter hohen Phönix hinter einem Vorhang), verstärkt diese Grenzgängerqualitäten des Stücks, die es zwischen griechischer Tragödie und „Gilmore Girls“ situieren. „Konsens“ ist gute Unterhaltung mit Vergewaltigung. Und das ist nicht ironisch gemeint.
Hier muss man sich nicht zusammenreißen, um sich mit einem schweren Thema auseinanderzusetzen: Sexualität und sexualisierte Gewalt sind eingebettet in den Rest des Lebens, so wie im wirklichen Leben auch. Und dann wagt sich Nina Raine an das ultimative Tabu: „Ich wollte eine Figur schreiben, die technisch ein Vergewaltiger ist, aber mit der wir trotzdem Mitgefühl haben. Und das war eine unglaubliche Herausforderung. Ich habe mich mit einem Freund darüber unterhalten, der Anwalt ist und sagte: ‚Das kannst du nicht machen, Nina. Wenn er sie vergewaltigt, werden wir ihn hassen. Da gibt es keine Grauzonen.‘ Und ich sagte: ‚Ja, aber er wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass das eine Vergewaltigung war.‘ Und mein Freund sagte: ‚Nein, nein, nein, nein.‘ Bis das Stück fertig war, und er zugab: ‚Ja, du hast recht.'“
Nina Raine entschuldigt keine Grenzüberschreitungen, aber lässt die Möglichkeit der Veränderung des Täters und der gesamten Gruppe offen. In England wird „Konsens“ bereits als moderner Klassiker gehandelt. Ein wenig, weil Nina Raine die Großnichte von Boris Pasternak ist, dem Autor von „Doktor Schiwago“, doch vor allem, weil es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen gibt, sondern die Debatte erweitert.
„Konsens“ von Nina Raine läuft im Düsseldorfer Schauspielhaus, Im Central, Worringer Straße 140, Große Bühne.