Von Mareice Kaiser

„An guten Tagen wache ich auf und bin eine Schildkröte.
Dann spaziere ich bepanzert bis an die Zähne durch die Straßen und verrichte gemächlich mein Tagewerk, Tunnelblick an und los, im Bauch ein Gefühl wie Hühnerfrikassee: warm, weich und muskatig.
An diesen Tagen kann mir niemand was. Zu dick die Haut, zu hart die Hornschilde.

An schlechten Tagen wache ich auf und bin ein Sieb. Geräusche, Gerüche, Farben, Stimmungen und Menschen plätschern durch mich hindurch wie Nudelwasser, ihre Stärke bleibt an mir kleben und hinterlässt einen Film, der auch unter der Dusche nicht abgeht. An diesen Tagen ist alles zu laut, zu nah, zu präsent.
Diesen Zustand als dünnhäutig zu bezeichnen wäre untertrieben, denn da ist keine Haut; sie hat sich über Nacht abgeschält, und die Organe liegen blank und pochen vor sich hin.“

Franziska Seyboldt © Linda Rosa Saal

Franziska Seyboldt, Jahrgang 1984, hat ein Buch über ihre Tage als Sieb geschrieben: „Rattatatam, mein Herz“, aus dem dieses Zitat stammt, ist gerade im KiWi-Verlag erschienen. Das Buch über ihre Angststörung ist die Fortführung ihrer „Psycho“-Kolumne bei der „taz“. Franziska Seyboldt schreibt nicht nur über ihre Angst, sie lässt sie auch selbst sprechen. Sie gibt damit nicht nur ihrer Angststörung ein Gesicht, sondern auch Menschen mit psychischen Erkrankungen. In „Rattatatam, mein Herz“ schreibt sie:

„Es bringt nichts, darauf zu warten, dass die Gesellschaft so weit ist, einen als ’normal‘ anzuerkennen. Eine Gesellschaft passt sich Tatsachen an. Tatsachen werden dadurch geschaffen, dass sich sehr viele Menschen so zeigen, wie sie sind.“

Dein Buch trägt den Untertitel „Vom Leben mit der Angst“. Ich habe es auch als ein Buch gelesen, das aus dem Leben in der Leistungsgesellschaft erzählt.
Franziska Seyboldt: Natürlich geht es auch um die Leistungsgesellschaft, in der wir leben. Aber vor allem geht es um den Stress, Perfektionismus und Druck, den man sich selbst macht. Das ist zuallererst etwas sehr Persönliches.

Was macht dir am meisten Stress?
Wenn jemand anderes auf mein Leben schaut, würde die Person vielleicht nicht unbedingt sagen, dass mein Leben stressig ist. Stress ist ja nicht objektiv, sondern subjektiv. Mich persönlich stresst am meisten Multitasking, wenn ich mehrere Dinge und Themen gleichzeitig jonglieren muss. Dann werden irgendwann sogar eigentlich schöne Verabredungen mit Freund*innen anstrengend. Ich arbeite deshalb auch am liebsten zu Hause. Da kann ich mir meine Zeit selbst einteilen und es prasseln nicht so viele Reize auf mich ein wie etwa in einem Großraumbüro.

„Ich konnte keine Spannungen ertragen, deshalb eliminierte ich sie. Eine Zwangsstörung, nur dass ich keine Hände wusch, sondern das zwischenmenschliche Klima“, schreibst du in deinem Buch. Wie hast du das gemacht?
Bei mir funktioniert das über Humor. Ich war schon in der Schule manchmal das, was man den Klassenkasper nennt. Indem man Leute zum Lachen bringt, kann man sie ja gut aus ihrer Anspannung rausholen. Und das habe ich eigentlich ständig gemacht, auch bei der Arbeit.

Ganz schön anstrengend, oder?
Und wie! Das habe ich aber ganz lange gar nicht verstanden, weil das ja ein unbewusster Prozess war. Mir ist erst sehr spät aufgefallen, wie anstrengend es ist, immer lustig zu sein. Es ist eine schöne Maske, aber eben eine Maske. Auch ich bin ja nicht immer fröhlich. Ich habe das bloß immer überspielt.

Du schreibst: „Ich hatte das Gefühl, die erwachsene Arbeitnehmerin nur zu imitieren. Sie könnte auffliegen.“ Auch so eine Maske, oder?
Ja, das ist dieser Perfektionismus. Dieses Gefühl, eigentlich dumm und nie gut genug zu sein und irgendwann aufzufliegen. Ich versuche, immer 150 Prozent zu geben. Manchmal würden wahrscheinlich auch einfach achtzig Prozent reichen. Darauf arbeite ich hin, aber das ist schwer.

Du beschreibst neben deiner Angst auch deine Hochsensibilität und das Gefühl, dass du hattest, als du das erste Mal Fachliteratur zum Thema gelesen hast: „Endlich ergibt alles einen Sinn!“ Ist dieses Gefühl bei anderen auch der Grund für deine Kolumne und dein Buch?
Lustigerweise haben jetzt schon zwei Freundinnen mein Buch gelesen, die darin zum ersten Mal mit dem Thema Hochsensibilität konfrontiert wurden. Beide wissen mittlerweile, dass sie auch hochsensibel sind – eine ganz neue Welt für sie. Für mich ist die Hochsensibilität ein wichtiger Punkt in meiner Geschichte, weil dadurch noch mal ein anderer Blick auf psychische Erkrankungen möglich ist. Es gibt offenbar bestimmte Veranlagungen, die eine*n sensibler oder anfälliger dafür machen. Und vielleicht liegt der Fehler ja gar nicht bei einer*m selbst, sondern darin, dass die Gesellschaft Erwartungen an eine*n hat, die man so nicht erfüllen kann. Ich möchte deshalb ungern nur von einer psychischen Krankheit reden, sondern viel lieber über die Bedürfnisse von Menschen. Was brauche ich, um gut zu leben?

Welche Strategien hast du, um dich zu schützen?
Ich versuche, regelmäßig einen Gang runterzuschalten. Kein Multitasking, mehr Ruhepausen. Natur. Das sind natürlich alles so Sachen, die man gefühlt schon hundert Mal gehört hat, ziemliche Klischees: Yoga, Kloster, Meditation. Aber das hilft mir tatsächlich. Tiere und Kinder erden mich z. B. auch. Ich merke das immer beim Babysitten. Da kann ich vorher noch so gestresst sein – sobald ich mit den Kindern rede und spiele, habe ich das Gefühl: „Stimmt, das hier ist ja das echte Leben.“  Weil mich das aus dem Kopf rausholt. Und im Kopf sitzt eben die Angst und der Verstand, der so gerne Schleifen macht.

Du verwendest in deinem Buch eine therapeutische Strategie: Du personifizierst deine Angst. Wie kamst du darauf?
Ich hatte mal eine Kolumne, in der ich mich mit den Möbelstücken in meiner Wohnung unterhalten habe. Das mache ich grundsätzlich gerne: mir vorstellen, dass Dinge Personen sind, und mich in sie hineindenken. Es hat mir Spaß gemacht, meiner Angst ein Gesicht zu geben, obwohl das zunächst ein unbewusster Prozess war. Vorher war die Angst sehr diffus und nicht wirklich greifbar. Ihre Figur hat sich dann während des Schreibens nach und nach entwickelt – und irgendwann habe ich festgestellt, dass ich sogar beginne, sie zu mögen. Erst danach hat mir mein Therapeut erzählt, dass das eine Strategie ist, die auch in der Psychotherapie benutzt wird.

Namensgebend für dein Buch ist eine Stelle, an der du beginnst, deine Angst zu lieben. Wie geht das?
Das geht nur, wenn man erkennt, dass die Angst nicht der Feind ist, sondern der Freund. Die Angst ist nicht die Ursache, sondern das Symptom. Ich habe jahrelang gebraucht, um zu verstehen, dass sie dafür da ist, mir zu zeigen: Halt, Stopp! Du überforderst dich gerade. Geh mal einen Schritt zurück. Andere bekommen dann ein Magengeschwür oder Rückenschmerzen, bei mir ist es Panik. Das ist zwar unangenehm, aber letztlich nur eine ähnliche Funktion wie eine Alarmlampe.

Musstest du darüber nachdenken, das Buch und die Kolumne zu schreiben? Stichwort: Stigmatisierung. Du beschreibst ja im Buch, dass du das schon als Schulkind erlebt hast.
Bisher habe ich nur positive Rückmeldungen bekommen. Aber natürlich reden seither viele Menschen mit mir über das Thema – das ist mir manchmal auch zu viel. Auf Partys über meine Angststörung sprechen, das muss ich z. B. nicht immer haben. Das triggert mich auch gerne mal.

Es gibt dann keine Grenzen mehr?
Ja – nur weil ich ein Buch darüber geschrieben habe, heißt das noch lange nicht, dass ich andauernd und ausschließlich über meine Angststörung sprechen möchte. Das empfinde ich dann schon manchmal als grenzüberschreitend. Ich bin schließlich ein Mensch mit einer Angststörung, keine Angststörung mit einem menschlichen Anhängsel.

Franziska Seyboldt „Rattatatam, mein Herz“
Kiepenheuer & Witsch, 256 S., 16,99 Euro
Die Autorin liest am 05. 02 um  20.00 Uhr in der Kantine am Berghain in Berlin.

Bei deinem ersten Buch hat deine Angst gewonnen: Bei deiner Lesung hast nicht du selbst deine Texte gelesen, sondern Freund*innen und Kolleg*innen. Nun wirst du im Februar bei der Buchpremiere selbst lesen. Wie ist das für dich?
Ich freue mich wahnsinnig darauf, werde aber natürlich auch wahnsinnig aufgeregt sein. Es war damals einerseits eine total schöne Idee, dass meine Kolleginnen und Kollegen diese Lesung möglich gemacht haben, aber andererseits auch ein wirklich blödes Gefühl, als andere Menschen aus meinem Buch vorgelesen haben. Ich saß quasi inkognito zwischen den Zuhörerinnen und Zuhörern und war so nervös, als würde ich selbst lesen. Die Rückkopplung vom Publikum, die mich vielleicht etwas entspannt hätte, kam logischerweise nicht bei mir an, sondern bei den Vorlesenden auf der Bühne. Dabei hätte sie eigentlich mir gehört, denn es war ja mein Buch. Deshalb habe ich damals beschlossen,  dass ich beim nächsten Mal selbst lesen werde.