Was man noch darf
Von
Von Tove Tovesson
Ständig lese ich von Verboten, die vermeintlich von pc culture durchgesetzt würden. „Man“ darf nicht mehr flirten, keine Filme mehr von Woody Allen gucken, Gedichte an Hauswände schreiben, das N-Wort sagen, überhaupt irgendwas sagen oder gar sein, insbesondere nicht privilegiert, ach, weh! Gleichzeitig tun etliche Menschen in genau diesem Moment all das, in Kombination, jetzt erst recht, für die Freiheit, aus Prinzip (Aufklärung etc.), als mutige, äh, Fackelträger – wenn auch prekär an den gesellschaftlichen Rand in Talkrunden und ins Feuilleton gedrängt.
(Nicht) sollen und (nicht) dürfen nicht auseinanderhalten zu können, ist eigentlich eine peinliche Offenbarung, moralische Entwicklung ungefähr Keller (das ist dort, wo man denkt, einer sei kein Vergewaltiger, solange er nicht richterlich verurteilt wurde, und das für Unschuldsvermutung hält). Das lasse ich mir nicht nehmen, das müsst ihr mir schon verbieten! – Ja, müsste man anscheinend tatsächlich, wenn euch anders nicht beizukommen ist. Passiert aber selten, weil Macht seltsamerweise anders verteilt ist.
Außerdem ist ja nach Logik der „Mitte“ etwas gegen Unrecht zu tun mindestens genauso unrecht wie dieses Unrecht! Konkret: Wer Nazis boxt, ist selbst Nazi – oder so. Es lebt sich gut „unter der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“ (Anatole France).
Die Debatte ums N-Wort ist besonders eindrücklich für diese Vulgärdialektik, für das verdrehte Anspruchsdenken hinter der Verteidigung dessen, was man anderen genommen hat. Wie die Vegetarierin mit einem Insel-Hungersnot-Szenario doch überführt werden kann, unter bestimmten Umständen hypothetisch Fleisch zu essen, wird nach einem Umstand gesucht, unter dem weiße doch das N-Wort sagen dürfen müssen, einem legitimen Bruch der unbarmherzigen Regel. Z. B. muss es doch erlaubt sein, als weiße*r Autor*in einen rassistischen Charakter das N-Wort sagen zu lassen, selbstverständlich um damit bei den Leser*innen Bewusstsein für Rassismus zu schaffen!
Wie hervorragend dieses Bewusstsein durch das Ausschreiben und -sprechen des N-Worts allgemein schon entwickelt ist, spricht wohl für sich. Wohlgemerkt, diese Debatte wird unter Bezug auf geistige Freiheit geführt, kann aber nicht anders, als – auf den Verbots-Strohmann antwortend – in den verklemmten Parametern der Tyrannei zu denken, die sie anderen antut: Es ist nicht denkbar, etwas aus ethischer Einsicht und freien Stücken zu unterlassen. Es gibt keine Gnade. Alles, was ungestraft angetan werden kann, wird getan. Notfalls ironisch, denn wenn man das Gegenteil von dem meint, was man tut, hat das bekanntermaßen magische Wirkung.
Die Diskussion um „Avenidas“ dümpelt in ähnlichen Fahrwassern. Insbesondere in der Kunst muss doch alles erlaubt sein, sie ist wichtiger als menschliche Befindlichkeiten. Linker Tugendterror, der gestern erst niemand Geringeres als „Die Kleine Hexe“ nichts weniger als zensierte, überstreicht heute mit meuchelnder Hand ein harmloses Gedicht über Alleen und Frauen und Blumen und 1 Bewunderer.
Es ist fast lustig, wie nun dieses Gedicht, das an onkelhafter Bräsigkeit schwer zu überbieten ist, als progressive Hochkultur verteidigt und damit der Akt des Überstreichens zur faschistischen Unterdrückung stilisiert wird, als wäre nicht die ganze europäische Kunst- und Kulturwelt seit Jahrhunderten eine Plattform für exakt das gleiche Motiv aus exakt der gleichen Perspektive.
Als ich die Übersetzung erstmals las, musste ich lachen, weil ich es immer wieder unfassbar finde, wie unverhohlen mittelmäßig erfolgreiche Männer sein dürfen. „Avenidas“ ist ein Gedicht über Streetharassment aus Männerperspektive, das sich glücklich schätzen kann, zum Meme zu taugen. Es ist peinlich in seiner vorgeschobenen Arglosigkeit, peinlich in seiner Anschlussfähigkeit an Ignoranz, und der absehbare Vorwurf, den eine Dichterin auf einer vergleichbaren Plattform (wahrscheinlich zu Unrecht) ertragen müsste, träfe hier ins Schwarze: Das ist nicht universell zugänglich, sondern aus qua Geschlecht begrenzter Weltsicht geschrieben. Die Frage ist also nicht, warum „darf“ man so was nicht schreiben (man darf ja), sondern warum sollte irgendwer das noch lesen wollen?