Von Jesse R. Buendia

Wie jedes Jahr findet zu dieser Zeit das Fest der absoluten Peinlichkeit, Fremdscham und Niveaulosigkeit statt: Karneval. Karneval ist in etwa so lustig wie Loriot. Mal abgesehen von einem „Musikgeschmack“ (Schlagerlieder!), den ich mir auch mit 3,0 Promille nicht antrinken kann, finde ich überhaupt nichts daran lustig, wenn u. a. heterosexuelle cis Männer sich wie Frauen verkleiden und denken, es sei ja total lustig, für einen Tag Perücke, Rock und High Heels zu tragen. Oder heterosexuelle Menschen, die es ja so lustig finden, sich Lack und Leder anzuziehen oder sich wie die Village People zu verkleiden, denn sich ein „Kostüm“ aus der Queer- und Gayszene auszusuchen, ist auf einer Humorskala von eins bis zehn ungefähr so viel lustig: minus drei. Was am Verkleiden als Frau so problematisch ist? Trans Personen, vor allem transfeminine Personen, erfahren täglich strukturelle und institutionelle Diskriminierung, Bedrohungen und sogar körperliche Gewalt.

© Eva Feuchter/Missy Magazine

Im Gegensatz zu heterosexuellen cis Männern, die verkleidet sind und gemeinsam freudig „Helau“ oder „Kölle alaaf“ rufen und mit allen Arm in Arm lachen, haben trans Personen nicht so viel zu lachen, wenn vor allem heterosexuelle cis Männer oftmals diejenigen sind, die sie bedrohen. Anlass des Lachens ist in diesem Kontext nicht ein „Kostüm“, sondern die Tatsache, dass ein Mensch nicht in gesellschaftliche Normen passt. Für alle „Jecken“ des Karnevals, die sich darüber aufregen, dass man ja echt gar nichts mehr darf: Lacht doch weiter über Loriot. Aber so ziemlich nichts ist lustig und witzig daran, sich Identitäten einer marginalisierten Gruppe anzueignen. Wer in den letzten zwei Jahren ein bisschen aufmerksam war, assoziiert mit Karneval wahrscheinlich auch „Indianerkostüme“ und weiße Menschen, die schwarz angemalt sind. Genau, Stichwort „kulturelle Aneignung“.

Das Wort „queer“ war ursprünglich ein Begriff, der gegen alle gerichtet war, deren geschlechtliche und sexuelle Identitäten nicht einer heteronormativen und heterosexuellen Ordnung (mit binären Geschlechtern) entsprechen. Ursprünglich war es ein abwertender Begriff, um Menschen dieser Gruppe zu beschimpfen, jedoch fingen ab den 1980er vor allem LGBTQIs of Color an, diesen Begriff als Selbstbezeichnung zu nutzen, weshalb „queer“ dadurch politisch besetzt wurde. Im Gegensatz zu „gay“, schwul oder lesbisch steckt hinter „queer“ ein explizit politischer Kampfbegriff, der über die Kritik an Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit hinausgeht. Nicht alle homosexuellen Menschen identifizieren sich automatisch als queer, da viele nicht automatisch Transfeindlichkeit, Rassismus oder Polizeigewalt ablehnen. Trotzdem gehören sie aufgrund ihrer Sexualität nicht zur heteronormativen Gesellschaft. Allein die Geschichte der Gay- und Queerkultur zeigt auf, weshalb es mir Kopfschmerzen bereitet, wenn sich Heteros dieser Kultur bedienen.

In unserer Kolumne Missyverse bloggt die Redaktion des Missy Magazines, immer im Wechsel. Ab sofort, jeden Freitag.

Das Aneignen der queeren und LGBTQI-Kultur durch heterosexuelle cis Personen findet täglich statt, ohne dass sich die meisten dessen bewusst sind. Ein Beispiel ist Mode. Die meisten Modetrends kommen in der heteronormativen Welt an, wenn sie in der Gay- und Queerszene schon wieder out sind. Und nein, natürlich nicht alle Trends. Den Yeezy Boost Trend dürfen Hetenmacker*innen für sich behalten. Mode wird hauptsächlich von homosexuellen und queeren Menschen gemacht und geprägt und gewisse Trends werden eben erst durch LGBTQI-Personen beliebt gemacht. Beispiel: Buzzcut (die gute alte Mecki- Frisur), Bomberjacken, Nike TnS, der Ohrring an einer Ohrseite. Du denkst dir jetzt: „Hä, so sehen doch alle aus?“ Richtig. Mittlerweile sind diese Trends auch bei Heteros angekommen. In Gay- und Queerszenen war diese Ästhetik vor Jahren schon en vogue , aber mittlerweile nicht mehr. Auch das Tragen vom Schlüsselbund am Karabinerhaken an der Hose ist beispielsweise ein Trend, den Lesben gefühlt seit 1980 tragen. Ich finde es irritierend, wenn ich in der Bahn sitze und eine Gruppe von Hetenmackern in jedem zweiten Satz das Wort „schwul“ benutzt, um etwas oder jemanden zu beleidigen, während alle die engsten Skinny Jeans tragen, die sie finden konnten; auch ein Style, für den vor allem schwule Freunde von mir damals auf der Straße als „Schwuchtel“ beleidigt wurden. Was mich daran stört? Vieles. Denn den meisten Heteros ist gar nicht bewusst, wer gewisse Trends, denen sie folgen, geprägt hat, und unterstreichen dieses Unwissen mit homo- und queerfeindlichen Aussagen. Ein aktuelleres Beispiel ist die HipHop-Band Migos, die sich regelmäßig homofeindlich und sexistisch äußert. In einem Interview äußerte sich das Trio homofeindlich auf das Outing des Sängers IloveMakonnen. Monate später rappte Offset von den Migos auf dem Track „Boss Life“:

Pinky ring crystal clear, 40k spent on a private Lear (phew)

60k solitaire (60 ball)

I cannot vibe with the queers (hun hun)

Es verwundert mich jedoch, dass Offset keinen Vibe mit den Queers fühlt, wenn ich mir nämlich den Style der Migos anschaue, sehe ich ziemlich viele queere Referenzen: lange Dreads, Blümchenhemden, Schmuck und enge Hosen. Mode ist nicht einfach nur Mode und ein Trend ist nicht einfach nur irgendein Trend, wenn marginalisierte Menschen, diesen schon Jahre vorher trugen und aufgrund ihres Andersseins diskriminiert wurden. Wenn Heten-Lisa also das nächste Mal ihren Choker, den sie bei Urban Outfitters gekauft hat, anlegt und ihrem süßen Boyfriend mit pastellfarbenem Buzzcut à la Frank Ocean und links getragenem Ohrring schreibt, dann sollten sie sich beide bewusst sein, dass sie sich einer queeren_gayen Ästhetik bedienen. Heten-Lisa ist sich nämlich nicht dessen bewusst, dass sie ihren Heterolifestyle problemlos ausleben kann, weshalb sie beim Feiern dann peinlich berührt reagiert, wenn sie auf ihren BDSM-Lifestyle angesprochen wird. Dem Choker bei Urban Outfitters ist nämlich kein Beipackzettel zugefügt.

Natürlich hat die Queer- und Gayszene nicht alle Trends erfunden, jedoch hat sie diese oft erst zu Trends im Mainstream gemacht bzw. der Mainstream hat den „Trend“ für sich beansprucht.

Queerness hat außerdem nicht nur etwas mit Mode und Aussehen zu tun, doch diese Faktoren sind subkulturelle Teilaspekte, die oft für Identifikation, Codes und Zugehörigkeit stehen. Man kleidet sich nicht queer, sondern lebt queer.

Die Aneignung der Queer- und Gaykultur findet natürlich auch in vielen anderen Bereichen statt. Z. B.: Ich hatte einmal ein Gespräch mit zwei heterosexuellen cis Männern über einen bekannten Schwulenclub in Berlin. Beide wollten mir erklären, dass sie ja nichts gegen Schwule haben, aber (shout out to „Ich bin kein*e Rassist*in, aaaaaber …“) sie wollen von „denen“ nicht angegraben werden, weil sie ja nicht schwul seien, und sie verständen ja überhaupt nicht, was das solle. Zunächst gratulierte ich beiden, dass sie zu 1 Prozent nachvollziehen konnten, wie Frauen und nicht binäre Personen sich tagtäglich fühlen und dass ich als homosexuelle Frau auch von heterosexuellen Männern angegraben werde und ich mich ja auch frage, was das denn von „denen“ solle. Aber klar, als homosexuelle Person willst du automatisch mit allen Personen des gleichen Geschlechts Sex haben und hast keine Standards. Deswegen sollen ja dann auch in den Gay Clubs bitte alle Homos Rücksicht darauf nehmen, dass Heten da sind. In diesem Falle solltest du dich als heterosexuelle Person wirklich nicht wie wir kleiden, sonst wird es verwirrend für alle Beteiligten. Das Gespräch ging dann weiter darüber, dass es an einer Clubnacht als Stempel das Wort „Faggot“ gab. Einer erklärte mir, wenn er sich den Stempel aussuchen könnte, er lieber einen anderen Stempel gehabt hätte, weil er nicht „Faggot“ auf seinem Arm stehen haben möchte. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich fragte beide daraufhin, weshalb sie denn überhaupt in diesen Clubs feiern müssten. Schließlich gibt es unzählige Heteroclubs. „Na ja wir wollen halt feiern gehen mit unseren Freunden und Club ist Club und generell ist der Club für alle da.“ An dieser Stelle konnte ich nicht mehr lachen und eigentlich nur schreien. Heterosexuelle Menschen, die so denken, sollten sich eins merken: Zieht euch ganz schnell eure Yeezy Boost und euer T- Shirt wieder an (das ihr in dem besagten Club auch gerne auszieht, weil „das macht man da ja so, ne?“) und geht mal wieder zurück ins Matrix, wo ihr euer Mackertum schön ausleben könnt. Toleranz ist nicht automatisch Akzeptanz.

Ich finde es wichtig, queere Partys explizit als solche zu benennen. Wenn ich mir täglich homofeindliche Kommentare auf der Straße anhören muss, weil ich die Hand meiner Freundin halte, möchte ich mir in einem solchen Space keine Dreierangebote von Hetenmackern anhören müssen. Die Diskriminierung, Demütigung und Gewaltbedrohung von homosexuellen und queeren Personen ist eine Realität, die ihnen aufgezwungen wird, weil sie eben nicht den Normen der heteronormativen Welt entsprechen. Heterosexuelle Menschen, die sich an Karneval ein Fetischkostüm anziehen oder sich als Frauen oder Lesben verkleiden, sich einem Modetrend bedienen, der in Queer- und Gayszenen beliebt war, oder auf gay und queeren Partys feiern gehen, können über eine Grenze springen, aber danach wieder zurück in ihre Komfortzone. Queere und homosexuelle Menschen können nicht über die andere Seite der Grenze springen.

Jesse R. Buendia macht gerade ein Praktikum beim Missy Magazine.

Das Bewusstmachen von Unterschieden hat auch nichts mit Verboten zu tun, sondern erst durch das Bewusstmachen von Unterschieden kann Diskriminierung bekämpft werden. Hand aufs Herz: Queere Kultur wird niemals ein Teil der heteronormativen Gesellschaft werden. Und das ist auch gut so, weil sie eine eigene Kultur ist und sich nicht der heteronormativen Kultur anpassen muss. Das Bewusstwerden über Queer und Gay Appropriation (so wie über Cultural Appropriation) soll dazu dienen, den harten Kampf, der leider immer noch nicht zu Ende ist, nicht zu vergessen und zu unterstützen. Und vielleicht hilft es auch der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft, sich mehr von der Queerszene abzuschauen, um sich mehr von den eigenen konservativen Fesseln der stereotypen Geschlechterrollen und kapitalistischen Vorstellung von Sexualität und Beziehung zu lösen.