Von Sophie Charlotte Rieger

Mitten hinein in die Diskussion um Harvey Weinstein und nun in Deutschland auch Dieter Wedel platzt die Berlinale 2018 mit einem Gewinnerfilm, der ausgerechnet „Touch Me Not“ heißt. Aber die Auszeichnung für Regisseurin Adina Pintilie und ihr Team ist kein politischer Schachzug. Auch wenn sich an dem Film schon in der Pressevorführung die Geister sichtlich schieden – zahlreiche Kolleg*innen verließen das Kino –, ist „Touch Me Not“ dennoch, oder vielleicht gar deswegen, ein absolut preiswürdiger Film.

© Jan Windszus / Berlinale 2010

In der fluiden Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm führt Adina Pintilie durch eine Reflexion zum Thema Intimität. Sie lässt Menschen miteinander in Kontakt treten, körperlich wie seelisch, und bringt auch ihre eigene Geschichte von Nähe und Distanz in die Filmhandlung ein. Wann die Schauspieler*innen hier von sich selbst oder von ihrer Rolle sprechen, ist nie klar zu bestimmen und im Grunde auch vollkommen nebensächlich. Die kleine Reise durch die Welt der physischen Begegnung, der Körperlichkeit, der Beziehungssuche mit sich selbst und anderen, ist so universell, dass sie unser aller Geschichte sein könnte.

Einen Kinostart hat „Touch Me Not“ noch nicht und in Anbetracht der auch für heutige Verhältnisse noch recht provokativen Bilder von Sexualität und nonkonformen Körpern dürfte sich dieser durchaus schwierig gestalten. Mit dem Goldenen Bären allerdings ist es deutlich wahrscheinlicher geworden, dass Adina Pintilie ihren Film einem breiten Publikum zugänglich machen kann.

Es gehört ohnehin zu den unausgesprochenen Regeln der Berlinale, und nahezu aller anderen Filmfestivals, dass oft nur die mittelmäßigeren Filme einen Kinostart erhalten. Ein paar Ausnahmen gibt es dennoch.

Von den ohnehin nur vier Wettbewerbsfilmen unter weiblicher Regie haben bis dato nur zwei einen Kinostart. Auf den von Laura Bispuris „Figlia Mia“ (Start: 07.06.2018) können wir uns bereits jetzt schon freuen. „Figlia Mia“ ist nämlich eine berührende und vor allem wunderschön gefilmte Dreiecksgeschichte über Weiblichkeit und Mutterschaft. Bevor  Angelica (Alba Rohrwacher) aus finanziellen Gründe ihre sardinische Heimat verlassen muss, möchte sie noch einmal Zeit mit Vittoria (Sara Casu) verbringen, die sie nach deren Geburt in die Obhut von Tina (Valeria Golino) gegeben hat. Die kleine Vittoria merkt instinktiv, dass sie etwas mit der trinksüchtigen und chaotischen Angelica verbindet. Tina wiederum spürt, dass ihr die geliebte Tochter zu entgleiten scheint. Alle drei müssen im Laufe der Geschichte sich selbst und einander finden. Dabei vermeidet Laura Bispuri erfolgreich weibliche Leinwandstereotypen: Tina ist ebenso wenig eine „Heilige“, wie Angelica eine „Hure“ ist. Die Frage, was eine gute Mutter ausmacht, ist in der Folge eine sehr komplexe, die wir als Zuschauer*innen letztlich selbst beantworten müssen.

Ebenfalls bereits für das deutsche Kino angekündigt ist Emily Atefs „3 Tage in Quiberon“ (Start: 12.04.2018) über ein Interview Romy Schneiders mit dem „Stern“-Reporter Michael Jürgs (Robert Gwisdeck). Die wahre Geschichte spielt 1981: Schneider ist bei der Presse in Ungnade gefallen, bankrott und kämpft in einer Kurklinik der titelgebenden französischen Hafenstadt gegen ihre eigenen destruktiven Dämonen. Von himmelhoch jauchzend bis tief betrübt vermag Hauptdarstellerin Marie Bäumer die emotionale Achterbahn ihrer Figur glaubwürdig zu vermitteln. Dass in diesem filmischen Porträt einer Frau mal wieder Leid und Hilflosigkeit die Hauptrollen spielen, ist dabei aber leider ein echter Wermutstropfen.

Nicht nur im Wettbewerb, auch in der Perspektive Deutsches Kino gab es Spannendes von und über Frauen zu entdecken. Z. B. den neuen Film von Philipp Eichholtz, „Rückenwind von vorne“ (Kinostart: 15.03.2018), der die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst erzählt. Dabei bricht Eichholtz einmal mehr mit Geschlechterklischees, wenn auch nicht ganz so kraftvoll wie im Vorgängerfilm „Luca tanzt leise“. Charlie (Victoria Schulz) nimmt heimlich die Pille, während ihr Freund Marco (Aleksandar Radenkovic) auf Familiengründung drängt. Klassische Rollenvorstellungen werden vertauscht, wenn Charlie nach Abenteuer und Partys sucht und Marco am liebsten sofort ein Nest bauen würde. „Rückenwind von vorne“ ist vielleicht gerade wegen des sanften Humors und der im Vergleich zahmen Protagonistin eine besonders glaubwürdige Emanzipationsgeschichte: Charlie muss nicht in Drogenrausch oder Promiskuität eskalieren, um als starke Frau zu gelten, und wird somit zu einer besonders zugänglichen Identifikationsfigur.

Ebenfalls in der Perspektive Deutsches Kino war der Dokumentarfilm „Draussen“ von Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann zu sehen. Die beiden Filmemacherinnen porträtieren insgesamt vier wohnungslose Menschen anhand ihrer Besitztümer. Das sind Alltagsgegenstände oder auch symbolische Objekte, die mit positiven wie auch schmerzhaften Erinnerungen verbunden sind. Ohne Voice-over oder erklärende Titel entsteht eine Augenhöhe zwischen Publikum und Protagonisten. Das Thema Obdachlosigkeit taucht mehr und mehr in den Hintergrund ab und schafft Raum für faszinierende Persönlichkeiten und ihre Geschichten. Der Kinostart von „Draussen“ steht bereits fest, doch ein Datum gibt es noch nicht.

Ebenso verhält es sich auch mit Wolfgang Fischers Abenteuerfilm „Styx“, in dem die einsame Seglerin Rike (Susanne Wolff) mitten im Ozean auf ein kenterndes Boot Geflüchteter aus Afrika trifft. Wenn Rike mitten im Sturm auf ihrem Boot steht und mutig den Naturgewalten trotzt, erinnert sie verdächtig an Robert Redford in „All Is Lost“. Die Figur der einsamen Abenteurerin ist definitiv ein Durchbruch für neue Frauenrollen auf der Leinwand. Das folgende moralische Dilemma im Kontakt mit den Geflüchteten ist dann wieder „klassisch weiblich“, was den Film aber kein bisschen weniger sehenswert macht.

Wie schon erwähnt: Die besten Filme eines Festivals haben oftmals keinen Kinostart. Dennoch seien hier kurz drei besonders sehenswerte Beiträge genannt, nach denen die Augen offenzuhalten sich definitiv lohnt.

In „High Fantasy“ von Jenna Cato Bass wird ein gemeinsamer Campingausflug von vier südafrikanischen Jugendlichen zu einer unerwarteten Selbsterfahrung, als sie über Nacht über Gender- und Race-Grenzen hinweg die Körper tauschen. Auf völlig neue Weise müssen sie nun die eigenen Stereotypen und Vorurteile infrage stellen, was insbesondere für den Gruppenzusammenhalt eine große Herausforderung darstellt.

Der Dokumentarfilm „Yours In Sisterhood“ verleiht Leserinnen des feministischen US-amerikanischen „Ms Magazins“ eine Stimme. Unveröffentlichte Briefe aus den 1970er-Jahren werden von Frauen unterschiedlichen Alters, sozialer Schicht, kulturellen Hintergrunds oder Hautfarbe vorgetragen. Damit schlägt Regisseurin Irene Lusztig nicht nur eine Brücke zwischen zwei Generationen von Feministinnen, sondern zeigt auch eindrucksvoll, dass ein Großteil der vierzig Jahre alten Emanzipationsdiskurse noch immer aktuell ist.

Leider ebenfalls ohne deutschen Kinostart, aber außergewöhnlich in verschiedener Hinsicht ist Josephine Deckers „Madeline’s Madeline“, die rauschhafte Erzählung einer Adoleszenzkrise. Titelheldin Madeline, atemberaubend verkörpert von Helena Howard, erholt sich von einem Psychiatrieaufenthalt und findet in einer Theatergruppe Zugehörigkeit und Halt. Doch dann wird die prozessorientierte Stückentwicklung immer mehr zum Eingriff in Madelines Privatsphäre. Wie sich wehren, wie sich emanzipieren, wie die eigenen Grenzen definieren und verteidigen?

„Touch Me Not“, „High Fantasy“, „Yours In Sisterhood“ und „Madeline’s Madeline“ hätten definitiv einen Kinostart verdient. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht haben wir Glück und es findet sich ein deutscher Verleih, der das genauso sieht. Also: Daumen drücken!