Von Jana Sotzko

Kurz vor einem Konzert häufen sich oft E-Mails unbekannter Absender im Postfach meiner Band. Letzte organisatorische Fragen hier, dubiose Videomitschnittsangebote da – alles schon gesehen im Alltag selbstorganisierter künstlerischer Arbeit. Diese Mails lassen sich schnell beantworten oder löschen. Der Aufruf zur Absage unseres Konzerts beim Berliner Pop-Kultur Festival im August 2017 hingegen, der meine Band nur wenige Tage vor dem Auftritt erreichte, war ein Novum. Eine zweite, von einer anderen Adresse gesendete E-Mail mit gleichem Inhalt folgte kurz darauf.

@ Sasha Zilbermann

Der Text der Nachrichten orientierte sich an einem Appell der internationalen Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions, kurz BDS, und forderte uns auf, auf „der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen, indem wir der von „Israel gesponserten“ Veranstaltung fernblieben. Zu diesem Zeitpunkt stand das Festival durch die Absage mehrerer Acts aus arabischen Ländern und die verärgerten Reaktionen von Politiker*innen, wie etwa dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer, bereits im Fokus einer überregionalen medialen Debatte über Sinn und Unsinn kultureller Boykotts im Allgemeinen und der Sanktionierung Israels im Besonderen. Auslöser für die Angriffe auf die Veranstaltung war ein Reisekostenzuschuss der israelischen Botschaft in Höhe von fünfhundert Euro für die arabisch-jüdische Sängerin Riff Cohen. Dargestellt wurde diese Beteiligung durch den BDS als „eindeutiger Versuch, […] Israel als hippen, multikulturellen und fortschrittlichen Staat darzustellen, um seine Besatzung Palästinas und seine Menschenrechtsverletzungen zu übertünchen“, wie es etwa auf dem Blog der Bonner BDS-Gruppe heißt. Am Ende blieben acht Bands und Künstler*innen – darunter der Headliner Young Fathers – der Veranstaltung fern.

Die Kampagne BDS und ihre Forderungen sind damit spätestens in diesem Sommer auch in der deutschen Öffentlichkeit angekommen.

Worum aber handelt es sich bei dieser Bewegung? Auf ihrer Webseite nennt die Kampagne 2005 als ihr Gründungsjahr. Ein von 170 palästinensischen NGOs unterschriebener Aufruf formulierte die drei Kernforderungen der BDS: Israel solle „die Besetzung und Kolonialisierung allen arabischen Landes beenden“, den „arabisch-palästinensischen Bürgern Israels volle Gleichberechtigung zugestehen“ und den „palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen“. Dass es sich um eine palästinensisch geführte, friedliche Graswurzelbewegung handle, wird auf der Webseite immer wieder betont, ebenso die Formulierung, Israel sei ein Apartheidstaat, und die Forderung nach seiner Isolation beruhe auf dem Vorbild des südafrikanischen Kampfes gegen die staatlich festgelegte sogenannte Rassentrennung. Wer jedoch mehr erfahren möchte, stößt schnell auf Unklarheiten und offene Fragen. Nichts zur langen antisemitischen Tradition des Boykotts jüdischer Waren und Personen, nichts zur im Juli 2017 erklärten Unterstützung der BDS-Bewegung durch die Hamas, nichts zu Vorstellungen davon, wohin so ein alle Lebensbereiche umfassender Boykott führen soll.Omar Barghouti wird aber in Interviews durchaus konkret: Die Zweistaatenlösung lehnt er ebenso wie Friedensverhandlungen ab und propagiert stattdessen die sogenannte Einstaatenlösung, die nichts anderes als die Abschaffung des jüdischen Staates Israel wäre und weder von der jüdischen noch der arabischen Bevölkerung mehrheitlich bevorzugt wird.

Nun ist BDS keine homogene Bewegung und vereint als transnationales Phänomen Personen, die aus unterschiedlichen Gründen glauben, die Isolierung des Staates Israel sei ein legitimes Mittel des politischen Engagements. Antisemitische Beweggründe stecken laut BDS nicht dahinter, aber das heißt natürlich nicht, dass sie nicht doch anti­semitisch sein können. Ein Blick in jede beliebige Onlinediskussion zum Thema lässt andere Schlussfolgerungen zu. Wer glaubt, mit dem öffentlich proklamierten Verzicht auf den Kauf israelischer Avocados im Namen von BDS Kritik an Ministerpräsident Benjamin Netanjahus expansiver Siedlungspolitik zu üben, begibt sich gewollt oder ungewollt in die Nähe zu Menschen, die sich unter demselben Hashtag die Auslöschung des Judentums wünschen.
Es ist absurd, dass Menschen unterschiedlichster politischer Couleur in Deutschland so strikte Ansichten über ein Tausende Kilometer entferntes kleines Land haben, dass sie sich für „eine Seite“ entscheiden, als wäre der Nahostkonflikt ein Fußballspiel. Indem BDS die historische Komplexität ausblendet, indem die Verbrechen der Hamas an den Palästinenser*innen, die Menschenrechtsverletzungen durch die palästinensischen Behörden und die erschreckende Zunahme antisemitischer Straftaten in Europa einfach vom Tisch gewischt werden, macht die Kampagne Israel zu einer Projektionsfläche für Ressentiments aller Art. In einer Welt, in der es an kriegerischen Konflikten, sozialer Ungerechtigkeit, Rassismus, Klassismus und kapitalistischer Ausbeutung wahrlich nicht mangelt, wird der israelische Staat mit strengeren Maßstäben als jedes andere Land bewertet.

In einem weiteren vereinfachenden Schritt werden durch Boykottaufrufe wie etwa jenen beim Pop-Kultur Festival israelische Bürger*innen auf ihre Nationalität reduziert und ungeachtet ihrer biografischen Hintergründe oder politischen Meinungen stellvertretend haftbar für die Politik der Knesset gemacht. Anders lässt es sich nicht erklären, warum eine unbekannte Berliner Band aufgefordert wird, nicht auf demselben Festival zu spielen wie eine Sängerin aus Tel Aviv. Die simple Gleichsetzung von Staat und Bevölkerung hat einen antisemitischen Unterton. Riff Cohen wird nicht als Person oder Künstlerin wahrgenommen, sondern eben als Israelin oder – ohne sprachliches Herauswinden formuliert – als Jüdin.

Welche Rolle indirekte Sprechakte und semantische Umdeutungen im vor allem online grassierenden Verbalantisemitismus spielen, hat die Linguistin Monika Schwarz-Friesel für das Antisemitismus-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung gründlich und nachvollziehbar aufgeschlüsselt. Die Stereotype, die sowohl in kruden Hasskommentaren als auch in sorgfältiger formulierter Kritik immer wieder bemüht werden, sind dabei häufig Variationen uralter judenfeindlicher Diffamierungen. Und auch wenn sich Boycott, Divestment and Sanctions selbst relativ milde ausdrücken sollte, findet sich jedes der tradierten Stereotype – Juden als gierig und verschlagen, als Drähte ziehende globale Machtinhaber, als Brunnenvergifter und Kindermörder – in Äußerungen von Anhänger*innen der Kampagne.

So bedient die Vorstellung, dass es sich bei der Reisekostenunterstützung von Riff Cohen nicht um einen gewöhnlichen diplomatischen Vorgang handle, sondern um eine durchgeplante Aktion der israelischen Regierung, Verschwörungstheorien. Und auf der Facebook-Seite von Nick Cave, dessen Konzert in Tel Aviv den jüngsten großen Angriff durch BDS auslöste, posten User*innen unter Klar­namen Fotos von toten Kindern oder spekulieren über die Gagen, mit denen sich die „Zionisten“ den Auftritt des australischen Superstars erkauft haben müssen. Und ja: Dass in den endlosen Diskussionssträngen selbst ernannter Nahostexpert*innen komplexe historische und politische Zusammenhänge auf Memes und die eigene Ansicht propagierende YouTube-Videos heruntergebrochen werden, gilt auch für BDS Gegner*innen. Dennoch: Die direkte Konfrontation via E-Mail, Twitter und Facebook erzeugt einen moralischen Druck, der für bekannte Künstler*innen in einer immensen Anzahl persönlicher Angriffe resultiert, die nicht einmal zu einem „Agree to Disagree“, geschweige denn zu irgendeiner Form fruchtbaren Austauschs führen. BDS forciert mit einer einseitigen Darstellung des Nahostkonflikts und dem Aufruf zum totalen Boykott Israels dieses Klima der Dialogfeindlichkeit.

Eine Gegenposition dazu formulieren die Unterzeichner*innen aus dem Kunst- und Kulturbereich von „Challenging Double Standards – A Call Against the Boycott of Israeli Art and Society“. In einem offenen Brief (abrufbar unter cds-call.tumblr.com) weisen sie auf das Potenzial von Kunst hin, Fragen zu stellen und unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen Raum zu geben. Anders als in der verkürzenden Sprache der BDS-Kampagne wird hier betont, dass innerhalb der Unterstützer*innengruppe durchaus eine Pluralität von Ansichten herrscht. Darüber jedoch grenzüberschreitend in den Austausch zu treten, ist eine wichtige und wertvolle Aufgabe von Kunst, und es ist schade und gefährlich, durch Boykott jede Tür zu Diskurs und Annäherung zuzuschlagen.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/18