Von Valerie-Siba Rousparast

Als ich in den Flieger steige, erscheint es mir zunächst noch selbstverständlich, von Geschnatter auf Deutsch umgeben zu sein. Es ist Nebensaison, aber alle Plätze nach Lissabon sind ausgebucht. Fröhliche Gesichter deuten darauf hin, dass alle sich darauf freuen, dem Schnee zu entkommen.  Auch angekommen, in einem Park weit oben am Hang der Stadt, höre ich um mich herum nur Deutsch. Ich stelle mal wieder fest: Wir sind überall! Es gibt kein Entkommen vor deutschen Touris, weder für Locals anderer Länder noch für mich. Ich bin eine von ihnen und frage mich: Was kann ich tun, um meinen Sandalenabdruck im Ausland möglichst klein zu halten? Ist reisen möglich, ohne Teil des Problems zu sein?

© Eva Feuchter / MIssy Magazine

Es gibt nur wenige andere Länder wie Deutschland, in denen es sich so viele Menschen im Kapitalismus bequem gemacht haben und es selbstverständlich finden, mehrmals pro Jahr das Feierabendbier gegen Sangria, Portwein oder frische Kokosnussmilch einzutauschen. Rote Köpfe auf weißen Körpern mit Sockenabdruck an den Waden sind das Tourist*innenklischee. Die Realität sind ungeduschte Müsligenießer*innen mit einer extra Portion Ignoranz im Rucksack. Kulturelle Aneignung ist nur eine der vielen Praxen von Tourismus.

Tourismus läuft, wenn er international ist, meist zuungunsten ehemals kolonialisierter Länder. Ehemalige Kolonialstaaten erfahren auch nach ihren Unabhängigkeitserklärungen die Nachteile des Machtgefälles, von dem Europa profitiert. Ob Namibia oder Costa Rica, der Reisespaß findet meist nur in eine Richtung statt.

Doch auch innerhalb Europas profitieren manche Länder von der Armut der anderen. So sind Portugal oder Griechenland zurzeit beliebte Reiseziele, weil sie dank ökonomischer Krise günstig für Reisende wie mich sind. Portugal war selbst eine Kolonialmacht und ist gerade dabei, diese Geschichte unter der einzigen linken Regierung Europas allmählich aufzuarbeiten. Trotzdem ist das Land im europäischen Vergleich arm und die Arbeits- und Lebensbedingungen sind verhältnismäßig schwierig.

Die Tourismusindustrie bedient sich nach wie vor der „Exotik“ als Marketingargument, selbst innerhalb Europas. Damit werden gleichermaßen Pauschalurlaubende wie Backpacker angelockt und tragen auf unterschiedliche Arten dazu bei, eine ganze Industrie zu finanzieren. Was davon vor Ort bei denen ankommt, die es wirklich brauchen, bleibt fraglich. Häufig bedeutet Tourismus den teilweisen Ausverkauf lokaler Kultur. Wir Kartoffeln tragen unsere Kultur stattdessen gerne mit uns und sorgen dafür, dass auch in der kleinsten Gasse Weißbier und Schnitzel angeboten werden, und ärgern uns im nächsten Schritt, dass das hier „so touristisch und gar nicht authentisch“ ist.

In unserer Kolumne Missyverse bloggt die Redaktion des Missy Magazines, immer im Wechsel. Ab sofort, jeden Freitag.

Dass es degradierend und entmenschlichend ist, wenn dein Privatraum, deine Religion, deine heiligen Stätten und Rituale, deine Kleidung, das Essen, die Haare auf deinem Kopf, deine Musik und zu guter Letzt dein Aussehen symbolisch und ökonomisch exotisiert werden, steht nicht im „Lonely Planet“ oder auf „TripAdvisor“.  Auch nicht, dass die Masse deutscher Touris, die sich in überteuerten Airbnb-Wohnungen breitmachen (shame on me), Gentrifizierung ankurbeln und so den Locals die Chance auf schönen und bezahlbaren Wohnraum nehmen. Oder in all den romantischen Cafés mit Baum vor der Tür und Lokalradio-Soundtrack, wo Anwohner*innen noch unter sich sein können, ihren Laptop aufklappen und dem Kerzenschein mit ihrem Retina-Display Konkurrenz machen.

Auch in Deutschland bedeutet Aufwachsen unterhalb der Armutsgrenze, dass Urlaub eher eine Ausnahme bleibt und mit dem klapprigen Auto und dem Zelt an den Balaton führt statt nach Bali. Und doch ist es für mich wie für all meine Freund*innen möglich, das Land zu verlassen, ohne dort etwas zu tun zu haben. Für den Großteil der Weltbevölkerung ist daran nicht zu denken. Viele haben weder Wochenenden noch Urlaubstage, geschweige denn Erspartes, um zu reisen und dadurch nicht nur kulturelles, sondern auch sozioökonomisches Kapital anzuhäufen, das sich im Anschluss mitunter als „Auslandsaufenthalt“ im Lebenslauf bei der Jobsuche einsetzen lassen kann – oder auch einfach Abstand von Alltag, Arbeit und Sorgen schafft. Andere können aus politischen Gründen nicht reisen oder nur unter Bedingungen, die deutlich schwerer sind als für diejenigen mit deutschem Pass und weißem Passing.

Was ist also zu vermeiden, wenn ich reisen kann und möchte, aber dabei nicht ausbeuterisch handeln möchte?

Eine Freundin erzählte mir mal stolz, dass sie es auf Kuba geschafft hat, zwei Wochen lang die Währung der Locals zu benutzen anstatt die für Touris vorgesehene. Dass sie sich den Flug dorthin leisten konnte, ohne im Anschluss hungern zu müssen, wohingegen Locals zu dieser Zeit noch unter rationierten Essensbeständen zu leiden hatten, kam in ihrer Ausführung nicht vor. Sandalen auf dem Markt für wenige Euros erfeilscht? Mag daran liegen, dass die Marge so klein war, dass die Händlerin nun gar nichts mehr daran verdient. Andere freuen sich auf eine Kreuzfahrt über das Mittelmeer. Zu Zeiten, in denen dort täglich Schlauchboote mit Hunderten flüchtenden Menschen sinken, eine makabre Wahl des Reisemittels.

Klar ist dennoch: Nicht jede*r ist Aktivist*in. Vielen fehlen dafür Ressourcen, für andere ist es schlicht nicht Priorität. Möglich für Leute wie mich, die nur bedingt aktivistisch sind, ist ein bewussterer Konsum. Mir hilft der Versuch, auf Reisen Locals kennenzulernen. Leute, die ähnliche Sachen machen wie ich, die Lust haben sich auszutauschen und Interesse an gegenseitiger Inspiration haben. Sie können mir sagen, wo ich auf meiner Reise mein Geld lassen sollte, wo Privatpersonen davon profitieren. Ich kann ihnen einen Schlafplatz in Berlin anbieten oder gegen Wissen und Skills tauschen. Dadurch finde ich heraus, wo es anstatt einer Fast-Food-Kette das beste von marginalisierten Personen betriebene Restaurant gibt, die aufgrund struktureller Diskriminierung keine Chance auf eine Lizenz haben und sich so den Lebensunterhalt verdienen. Vielleicht hilft es außerdem, Privatunterkünfte anzumieten, anstatt kommerzielle Airbnbs oder Hotels zu unterstützen, um so zumindest zu vermeiden, große Unternehmen zu unterstützen, die von kapitalistischer Ausbeutung profitieren und Verdrängung anheizen.

Zum Glück gibt es in den meisten Städten auch alternative Stadttouren. Häufig führen Guides durch die Straßen und zugleich die Kolonialvergangenheit oder politische Geschichte ihrer Stadt – aus der Perspektive von Menschen, die unter den aktuellen oder Spätfolgen ebendieser leiden.

Valerie-Siba Rousparast arbeitet seit 2016 als Redakteurin bei Missy. Wenn sie nicht gerade im Internet ist, schreibt sie darüber, über Popkultur und soziale Beziehungen.

Geheimtipps und Orte, die man auf diesen Touren entdeckt und an denen sich vorwiegend Locals tummeln, könnte man privat weitergeben, aber unerwähnt lassen, wenn man auf Social Media vom Urlaub erzählt, um zu vermeiden, dass sich dort bald so viele Tourist*innen tummeln, dass der einst günstige, für Locals frequentierbare Ort zum nächsten Franchise-Paradies wird. Aus ökologischen Gründen so viele Strecke wie möglich mit Zug, Bus und Fahrrad zurückzulegen hat vermutlich auch noch nicht geschadet. Wird am Reiseziel abends nicht auf der Straße getrunken, dann muss man es sich nicht zum Spiel machen, diese Regel zu umgehen. Wird dort eine bestimmte Kleidung erwartet, muss man sich nicht aus Trotz weigern, sich für die Dauer des Aufenthalts der Shorts zu entledigen und sie gegen etwas Längeres einzutauschen. Sieht man dort Menschen, die interessant aussehen, fragt man, bevor man sie fotografiert, und lernt vielleicht vorher ein paar Wörter in der Landessprache, um Locals, die nicht die Möglichkeit hatten, Englisch in der Schule zu lernen, nicht zu stressen.

Das alles ist für viele im Urlaub normal, für andere unbequem, für mich ein Teil von feministischer Praxis. Touristin bleibe ich trotzdem. Aber ich unterstütze nicht ungeachtet ein System, das ich täglich vom heimischen Sofa aus online per Avaaz-Petition kritisiere.