Aber die lügt doch!
Kolumnist*in:
Anfang März hat taz online ein Video mit mir veröffentlicht, in dem ich über Antisemitismus und Empowerment-Strategien spreche. Freundlicherweise sind die ätzendsten Kommentare inzwischen gelöscht, aber viele kreisten darum, dass ich lüge. Genau genommen war der Aufhänger, dass ich in dem Video berichte, wie ich einer Nazi-Kleinfamilie am U-Bahnhof begegnet bin und sie sich weigerte, mit mir den Aufzug zu teilen. Ich sage auch, dass ich das Ende der Geschichte ändere, wenn ich davon erzähle – als Empowerment-Strategie.
Die „Wahrheit“ sieht so aus, dass ich mit dem Aufzug nach oben gefahren bin und dann so schnell wie möglich die Szene verlassen habe, weil ich Angst hatte. Was ich erzähle ist, dass ich mit dem Aufzug so lange rauf- und runtergefahren bin, bis die Nazi-Kleinfamilie den schweren Kinderwagen die Treppen hoch schleppen musste. Der Witz ist, all das mache ich transparent. Ich erkläre, warum ich das tue, dass es dabei um Empowerment und Umgangsstrategien geht. Dass Geschichten umzuschreiben beziehungsweise umerzählen eine Umgangsweise, eine Handlungsmöglichkeit, eine Form der Rückeroberung, eine Umkehr von Ohnmacht und Selbstermächtigung ist. In meiner Erzählung haben die Nazis am Ende verloren. Ein Happy End! Denn von den unglücklichen Enden hören wir als Jüdinnen_Juden genug.
Wir kennen so viele Berichte aus unserem Umfeld, in denen es für die bedrohte Person nicht gut ausging. In denen die Opfer die Opfer bleiben. Ich erzähle von einer anderen Realität. Es geht dabei um Empowerment – für mich selbst, aber auch für jene, die die Geschichte hören und womöglich denken „bäääm!“, statt immer nur von den verlorenen Schlachten zu hören. Meine Erzählung darauf zu reduzieren, dass ich lügen würde, ist absurd und zeigt, dass es diesen Leuten an Strukturverständnis und an Diskriminierungserfahrung fehlt. Aber es zeigt noch etwas anderes: wie statisch das Verständnis von Wahrheit ist.
Wir glauben zu wissen, was Wahrheit ist und tun so, als wäre es etwas Statisches, Rationales, Logisches. Das ist EINE Sicht auf Wahrheit. Eine weiße, westliche, christliche Sicht. In anderen Kulturpraxen wird mit Wahrheit anders umgegangen. Sie erkennen sie als etwas Mehrdimensionales an oder stellen sie ganz in Frage. Traum und Wachsein, Wunsch und Möglichkeit, Erinnerungen, Veränderung, Prozesshaftigkeit, Transformation… alles als Teil von Wahrheit. Auch meine Erzählung mit dem alternativen Ende ist eine Wahrheit. Keine, die nach weißen, westlichen, christlichen Werten anerkannt wird, aber in ihr steckt eine Wahrheit, die viel bedeutender ist, als eine scheinbar objektive Wiedergabe einer Abfolge von Geschehnissen: Die Ohnmacht ist nicht absolut – wir können uns wehren. In dem Moment selbst oder nachträglich.
Zum Beispiel, indem wir Erzählungen ändern und umdeuten. Machtvolle Positionen tun das von je her. Geschichte umdeuten und umerzählen: Schauen wir uns Geographie- oder Geschichtsbücher an, in Bezug auf Kolonialismus, Faschismus, Christianisierung, Sexismus und so weiter. Umerzählung funktioniert als Unterdrückungsinstrument, aber genauso gut als Empowerment-Tool – wenn wir uns trauen. Und warum sollten wir irgendwem verpflichtet sein, anders mit unseren Gewalt- und Diskriminierungserlebnissen umzugehen als mit der Wahrheit, die uns am meisten hilft, stärkt oder einfach Spaß macht?!
Es ist eine Superkraft: Wir haben die Macht, die Vergangenheit zu ändern! Das bedeutet, auch wenn wir in Situationen nicht (schlagfertig) reagieren konnten, heißt das nicht, dass Aggressor*innen gewonnen haben. In MEINER Wahrheit habe ICH gewonnen und das ist das entscheidende! Denn die Wahrheit ist immer eine Frage der Perspektive. FAST immer. Denn es gibt ein paar absolute Wahrheiten: Nazis sind Arschlöcher!