Von Janne Knödler

Jessica Jones lächelt nicht für dich. Wenn sie in ihrer schwarzen Bikerjacke die Straßen von Hells Kitchen entlangläuft, traut sich niemand, ihr zuzurufen, dass sie mit einem Lächeln hübscher aussehen würde. Jedenfalls niemand, dem seine Zähne etwas wert sind. Jessica Jones nämlich, das lernen wir schnell, lässt sich nichts gefallen und ich muss nicht lange nachdenken, um mich an Situationen zu erinnern, in denen ich sie gerne als Engel/Teufel auf meiner Schulter gehabt hätte.

©David Giesbrecht/Netflix

Jones, Protagonistin der Verfilmung des Marvel-Comics, ist keine makellose Superheldin wie Diana Prince aka Wonder Woman. Sie wurde nicht aus Ton geformt und von einem Gott zum Leben erweckt, sondern von Menschen gezeugt und geboren, wuchs danach in einer Kleinstadtfamilie auf und wurde erst durch die Experimente einer mysteriösen Organisation zu dem, was sie jetzt ist: ein Mensch mit übermenschlichen Kräften. Diese nutzt sie aber nicht, um die Straßen von Hell’s Kitchen von Bösewichten zu befreien, sondern um als Privatdetektivin über die Runden zu kommen. Neben (oder während) ihrer Arbeit trinkt sie in versifften Bars, hat leidenschaftlichen oder leidenschaftslosen Sex und streitet mit ihrer Freundin Trish darüber, ob aus großer Kraft große Verantwortung folgt.

In der ersten Staffel drehte die Handlung sich um Jessicas Emanzipation von Kilgrave. Kilgrave ist ein Comic-Bösewicht par excellence: ein Mann mit teuren Anzügen, britischem Akzent und sadistischen Vorlieben. Seine Superkraft: Mind Control. Die nutzte er, um Jessica monatelang mental, körperlich und sexuell zu misshandeln. Totgeglaubt kehrt er nun zurück, und Jessicas Transformationen von eiskalter I-don’t-give-a-f**k-attitude zu dem rohen Schmerz ihrer posttraumatischen Belastungsstörung, grandios gespielt von Krysten Ritter, führte den Zuschauer*innen immer wieder vor Augen, dass selbst die stärksten Menschen nicht unverwundbar sind.

Jessica Jones war #metoo vor Weinstein und wurde zu einer Identifikationsfigur für tausende von Zuschauer*innen. Zweieinhalb Jahre später taucht die zweite Staffel tiefer in Jones‘ Vergangenheit. Wie erlangte sie ihre Superkräfte? War der Autounfall, bei dem ihre ganze Familie ums Leben kam, wirklich ein Unfall? Und welche Rolle spielt die zwielichtige Organisation IGH dabei?  „That’s always the Question“, erzählt sie ihrem attraktiven Nachbarn Oscar über einer Flasche Whisky, „What are you? How did you get this way?“ Die Ursprungsgeschichte ist Teil jeder vernünftigen Superheld*innensaga. Jessica Jones tanzt deshalb aus der Reihe, weil diese Fragen ihre Mitmenschen sehr viel mehr interessieren zu scheinen als Jessica selbst. Ihre Bewältigungsstrategie nämlich lautet: Verdrängung. am liebsten mithilfe von Alkohol, und das wird genauso dysfunktional dargestellt, wie es sich anhört.

Die Drehbuchautorin Melissa Rosenberg zeigt uns mit Jessica Jones eine Protagonistin, die nicht immer die vernünftige Entscheidung trifft oder konstruktiv handelt. Sie ist stur, unfreundlich und abweisend, ihre Verletzungen sitzen tief und sind nicht einfach Plot Twists, die problemlos überwunden werden. Die Serie schreckt nicht davor zurück, Themen frontal anzupacken, um die sonst herumgeredet wird: Neben Jessica Jones‘ posttraumatischer Belastungsstörung geht es um mentale Krankheit (der grandiose Spruch „with great power comes great mental illness“ verdient ein Tattoo). Wir erfahren, dass Jessicas beste Freundin Trish als 15-Jährige von einem Regisseur vergewaltigt wurde und danach jahrelang abhängig von Drogen war. Die Serie lebt von dem Schmerz und der Rohheit der Gefühle der Protagonist*innen – und deren Resilienz. In einer Welt, in der Überleben manchmal zum Kunststück wird, sind Jessica und Trish ein empowerndes Beispiel dafür, welche Ressource Freundinnenschaften sind.

Die Serie ist darauf ausgelegt, Feminismus in den Mainstream zu bringen: In allen dreizehn Folgen führten Frauen Regie, mit Melissa Rosenberg leitet eine Frau die Serie an und die zweite Staffel erschien nicht zufällig am 8. März auf Netflix. Zusammen mit den Kick-Ass Protagonistinnen könnte das das Rezept für den ultimativen feministischen Fernsehspaß sein. Trotzdem (oder genau deshalb) habe ich das Gefühl, dass ich die Serie mehr mögen sollte, als ich es tue. Einzelne Nebenstränge scheinen überflüssig, der große Spannungsbogen fehlt, vor allem die ersten Folgen waren mir einfach zu langatmig, mehr als einmal erscheinen mir die Konflikte zwischen den Protagonist*innen zu konstruiert.

Die beiden Staffeln von „Jessica Jones“ laufen auf Netflix.

Den Bechdel-Test übersteht jede Episode problemlos, ein Thema wird aber umgangen: Race. In einem Artikel für Bitch Media beschreibt Cameron Glover, wie die Serie Charaktere of Color stets als Vehikel für die Charakterentwicklung der weißen Protagonist*innen nutzt, und am Ende konnte mich selbst meine Loyalität gegenüber Jessica nicht dazu bringen, die Staffel fertig zu schauen.

Vielleicht ist aber genau das ein Zeichen dafür, dass wir weiterkommen: Dass es eine Serie von starken Frauen über starke Frauen für starke Frauen gibt und ich trotzdem kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn für mich in der zweiten Staffel die Luft raus ist. Dass ich als Feministin nicht jedes Kulturprodukt mögen muss, das von Feminist*innen geschaffen wurde. Was ich von ihr halte, wäre Jessica Jones ja eh egal.