Realgedankliche Utopien
Von
Von Miriam Burzlaff und Pasquale Virgine Rotter
In meiner Utopie braucht die nicht-jüdische und nicht-Schwarze Mehrheitsgesellschaft nicht „die Juden_Jüdinnen“ und „die Schwarzen“, um etwas über sich selbst zu lernen und zu erfahren. Alle können das Wort „Jude“ aussprechen, ohne mit der Wimper zu zucken, zu stottern oder zu erröten
Und „Jude“ wird nicht als Schimpfwort genutzt. Jüdinnen und Juden sind einfach Jüdinnen und Juden. Punkt aus. In meiner Utopie werden Juden_Jüdinnen nicht unsichtbar gemacht. Sie werden mitgedacht. Immer. Auch können alle von „Schwarzen Menschen“ sprechen, ohne Zweifel zu hegen, weil ja „Schwarz“ irgendwie zu hart klingt oder die Haut „von denen“ ja gar nicht richtig schwarz ist. Sie haben zugehört, wenn Schwarze Menschen den Giftschrank deutsche Sprache und ihre Geschichte thematisieren. Alle wissen, dass „Schwarz“ eine politische Selbstbezeichnung von vielen Schwarzen Menschen in Deutschland ist.
In meiner Utopie sagen Leute nicht zu mir: „Du hast dich als Jüdin* geoutet.“ Alle nicht-jüdischen Menschen haben sich damit auseinandergesetzt, was sie empfinden, wenn ihr Gegenüber sagt, dass sie*_er* jüdisch ist und welche Assoziationen und_oder Schuldkomplexe das in ihnen hervorruft. Es wird erkannt, dass sowohl Schwarze Menschen als auch Juden_Jüdinnen entlang natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten konstruiert wurden und werden. In meiner Utopie hört die Mehrheitsgesellschaft auf, Antisemitismus und die eigene Erinnerungskultur zu missbrauchen, um ihr verlogenes Selbstbild aufrechtzuerhalten.
Die Mehrheitsgesellschaft hört in meiner Utopie auch auf, darüber entscheiden zu wollen, wann ein Schlussstrich gezogen wird. Ich gestalte eine Erinnerungskultur mit, die der Vielfalt von Bezügen zu Gewalt, Vernichtung und Krieg gerecht wird, Unterschiede mitdenkt, Betroffene nicht gegeneinander ausspielt und Gemeinsamkeiten spüren lässt.
Wir kommen den Täter*innen in uns selbst auf die Spur. Ich verstehe, wie verschiedene Formen von Antisemitismus mein Denken und meinen Blick auf Juden_Jüdinnen geprägt haben. Ich verstehe, wie Rassismen mein Denken und meinen Blick auf Schwarze Menschen geprägt haben. Ich bin von all dem befreit. Für immer. In meiner Utopie bekomme ich nicht diktiert, was ich wozu sage. Ich muss mich nicht immer und immer wieder zu den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft verhalten. Ich kann das mitteilen, was ich denke und was mich bewegt. In meiner Utopie spreche ich nie wieder gegen Wände. Ich werde – verdammt noch mal – gehört. Unmittelbar. Es werden die Ängste aller marginalisierten …