Von Lene Zade

Ich bin fast 50 und habe keine Kinder. Das war keine Entscheidung, sondern Schicksal. Es gibt aber in meinem Leben bald sechs Enkelkinder. Und ich habe vier Patenkinder, nicht im klassischen Sinne, denn ich bin nicht religiös, sondern im sozialen Sinne. Es sind Kinder von Freundinnen, für die ich Verantwortung übernehme. Ganz klassisch. Ich versuche, eine verlässliche Größe in deren Leben zu sein und darin auch Partnerin der Eltern. Mein ältestes Patenkind ist gerade 18 geworden, das kleinste wird bald vier.

© Eva Feuchter

Der Impuls, nicht nur die Freundin von Müttern sein zu wollen, sondern eine besondere Verantwortung für einzelne Kinder zu übernehmen, war ein Unfall. Eine Freundin erwachte nach einem schlimmen Sturz im Krankenhaus und sah sich für den Moment außerstande, den Alltag zu regeln. Um das kleine Kind konnten sich zu der Zeit noch die Großeltern kümmern, aber was, wenn die nicht mehr da wären? Da war wirkliche Panik. Es brauchte lange Gespräche, um sie davon zu überzeugen, dass ihr gutes Netzwerk an Freund*innen auch das Kind auffangen würde.

Wir haben keinen Vertrag gemacht und kein Ritual gefeiert. Aber sie hat mich im Kindergarten und in sonstigen Einrichtungen als abholberechtigt eintragen lassen. In ihrem dicht getakteten Alltag als Künstlerin mit dann bald zwei Kindern wurde ich zu einer Ressource für die Kinderbetreuung. Die gemeinsamen Abende bei einem Glas Wein wurden zunächst seltener, aber sie kamen wieder.

Vor Kurzem schrieb Missy-Redakteurin Sonja Eismann ihre Kolumne „Von den Gräben zwischen Lebensentwürfen mit und ohne Kindern“. Unsere langjährige Autorin Lene Zade erweitert die Perspektive als mehrfache Tante ohne eigene Kinder. In unserer Kolumne Missyverse bloggt die Redaktion des Missy Magazines, immer im Wechsel. Ab sofort, jeden Freitag.

Lene Zade, geboren 1969, arbeitet seit 20 Jahren als Journalistin im Nebenberuf. Seit 2014 schreibt sie auch für Missy. Die Kinder ihres Mannes waren längst erwachsen, als sie ihn traf. Großeltern aber sind sie zusammen geworden. Als Patentante ohne höheren Auftrag begleitet sie das Aufwachsen einiger Kinder aus ihrem Freund*innenkreis besonders intensiv.

Aber auch für die Kinder bin ich eine Bezugsperson. Ich bin nicht nur die, die immer Gummibärchen bei sich hat und ausdrücklich zum Spielen da ist, wenn ich, wie verabredet, vorbeikomme. Ich stehe auch für bestimmte Dinge, die sonst in ihrem Alltag weniger vorkommen. Für den einen war ich lange Zeit eine Instanz in popmusikalischen Fragen, für den anderen bin ich die, die kein Fleisch isst und Kriegsschiffe eigentlich gar nicht mag.

Aus der Diskussion mit dem damals Vierjährigen entwickelte sich eine Sonderform des Schiffeversenkens. Zunächst kollidieren im Kinderzimmer die Schiffe, dann plötzlich hören wir Klopfzeichen, und es gilt, die Überlebenden zu retten. Ich, der alte Wal, hieve das Wrack an die Meeresoberfläche, und der kleine Held kümmert sich um die in Seenot Geratenen. Wenn er kein Held mehr sein will, wird aus dem Matrosen ein kleiner Rotbarsch, der sich um das Mittagessen kümmert. Für mich sammelt er Algen zusammen, für sich suchte er nach Makrelen.

Kinder diskutieren gern. Ich finde es gut, wenn sie mit verschiedenen Positionen in ihrem Umfeld konfrontiert werden. Es kann sehr lustig und erhellend sein, mit Menschen, die eben erst gelernt haben, ihre Gedanken in Worte zu fassen, über grundsätzliche Dinge des Lebens zu diskutieren. Ich liebe es sehr.

Mein Engagement als Patentante hat aber noch einen ganz anderen Grund: Ich will weiterhin mit meinen Freundinnen befreundet sein. Würde ich mich nicht auf ihr Elternsein einlassen, hätte ich kaum noch Chancen, Zeit mit ihnen zu verbringen. Eine Freund*innenschaft unter diesen veränderten Bedingungen zu pflegen, braucht aber ein Bewusstsein dafür auf beiden Seiten. Eltern müssen lernen, auch mal loszulassen und anderen zu vertrauen. Auch Nicht-Eltern können ein Kind halten, beaufsichtigen und vielleicht sogar trösten. Aber loszulassen scheint nicht leicht zu sein, zumal am Anfang die Eltern-Kind-Beziehung notwendigerweise symbiotisch ist.

Ich habe es oft erlebt, dass junge Eltern mit ihrem Kind auf dem Arm und einer schweren Tasche über der Schulter den Kinderwagen vor sich herschieben und beharrlich alle Hilfsangebote ablehnen. „Geht schon!“ Daneben herzulaufen, ohne eine der Lasten abnehmen zu dürfen, fühlt sich ziemlich blöd an. Ja, ihr seid Held*innen des Alltags, aber muss das auch dann stilisiert werden, wenn es gar nicht nötig ist? Ich bin nicht Teil des Alltags, aber ich kann hin und wieder eine Stütze sein.

Meine Patenkinder habe ich alle nur wenige Stunden nach ihrer Geburt kennengelernt. Mit großer Erleichterung bin ich jeweils, sobald die Nachricht kam, dass die Geburt überstanden sei, ins Krankenhaus geeilt. Da ich auch bei drei Entbindungen dabei war, weil die jeweiligen Väter abhandengekommen waren, weiß ich, dass Kinder auf die Welt zu bringen alles andere als leicht ist.

Ich war gerade 17, als ich das erste Mal mit in den Kreißsaal ging. Als Begleitende wurde mir nicht die Gnade der Endorphinausstöße nach der Geburt zuteil. Ich kann mich immer noch an die Schreie und das zeitweise Entsetzen der Gebärenden erinnern, die überwältigt vom Schmerz den Glauben daran zu verlieren schien, dass dies irgendwann gut endet. Deshalb war ich jedes Mal unendlich gerührt, wenn meine Freundinnen, die ich zum Teil fast mein ganzes Leben kenne, mir ihre Kinder in den Arm legten. Sie hatten es geschafft. Beide. Und sie wollen das Glück mit mir teilen.

Ich kenne Frauen, die wollten wenige Wochen nach der Geburt unbedingt wieder Tanzen gehen. Dann habe ich eben auf das Kind aufgepasst. Eine Freundin, der ich nach der Niederkunft im Haushalt helfen wollte, mochte viel lieber mit mir über ihre Projekte reden. Eine andere hat nie wieder über irgendetwas anderes geredet als über ihr Kind.

Freundin von Eltern zu sein kann ziemlich vielschichtig sein. Über Erziehungsmethoden kann und will ich nicht richten. Jede Familie ist anders und braucht ihre eigene Dynamik, um zu funktionieren. Und ob eine zwei Jahre oder vier Monate stillt, ist allein ihre Sache und mir letztlich egal. Allenfalls diskutiere ich mit meinen Freundinnen über gesellschaftliche Normierungen, denn nicht wenige erleben ihr Muttersein als Rückfall in Geschlechterrollen, die sie längst überholt glaubten. Eine Strategie, diesem Rollback zu begegnen, kann sein, im Gespräch zu bleiben, das Vertrauen auf Freund*innennetzwerke nicht zu verlieren und aneinander interessiert zu bleiben. Das kann helfen, Zumutungen zu erkennen und ihnen zu begegnen.

Für die oftmals stressige Bewältigung des Alltags mit Kind kann ich nur Angebote machen. Ob Mütter in mir einen Notnagel für die Kinderbetreuung, einen Kummerkasten für ihre Alltagsprobleme oder eben jemanden sehen, mit der sie mal über etwas anderes als über Kinder reden können, hängt sehr von dem Charakter der Freundschaft ab. All das hat seine Berechtigung, wenn der Respekt für mein Leben bleibt. Für meine Arbeit und für meine Verzettelungsleidenschaft.

Ich mag mein Leben, auch ohne (eigene) Kinder. Ich mag es, am Wochenende ausschlafen zu können und im Alltag nur für mich verantwortlich zu sein. Ich arbeite gern und viel. Ich gehe gern auf Konzerte und werde nicht aufhören, meine Freundinnen dazu einzuladen. Ich werde auch nicht aufhören, ihnen meine Lieblingsbücher zum Geburtstag zu schenken, auch wenn ich weiß, dass ihre Lesezeitressourcen geringer sind als meine. Aber nur weil sie Mütter sind, hört das kulturelle Interesse ja nicht auf.

Ich kenne die Erschöpfung in den Augen meiner Freund*innen, wenn die Nächte mal wieder zu kurz waren und die Kinder in ihrer lauten Präsenz auch mal unausstehlich sind. Ich weiß, dass ich ihnen die Erschöpfung nicht abnehmen kann, wenn ich einmal im Monat mit ihren Kindern rumtobe. Mir ist klar, dass ich die Rosinen genieße.

Aber ich habe auch eine Kiste mit Spielzeug und einen Regalmeter mit Kinderbüchern in meinem Wohnzimmer. Ich kann Babys wickeln, weil seit 30 Jahren immer wieder Kinder in meinem Umfeld geboren werden. Ich kann überdrehte Kinder beruhigen und kenn mich ziemlich gut mit Lego aus. Ich nehme Kinder ernst und lass mir gern von ihnen die Welt erklären. Kinder sind Teil meines Lebens. Auch wenn es nicht die eigenen sind.