Interview: Juli Katz

Zur „wahrscheinlich mächtigste[n] Dealerin von Emotionen“ wurde Melissa Broder von der Zeitschrift „GQ“ gekürt. Als Verfasserin der Tweets von @sosadtoday befasst sie sich mit ihren psychischen Erkrankungen und der Angststörung, die ihr im Alter von zwölf Jahren diagnostiziert wurde. Sie schrieb Horoskope für Lena Dunhams Newsletter „Lennyletter“ und bespielte die Kolumne „Beauty and Death“ in der „Elle“.

2016 erschien ihre Essaysammlung „So Sad Today“, in der sie von ihrer Alkohol-  und Drogenabhängigkeit erzählt, von ihrer Essstörung und ihren (un-)glücklichen (Liebes-)Beziehungen – „romantischen Obsessionen“, wie sie sie nennt. Auch ihr neues Buch, „Pisces“, das zeitgleich auf Deutsch im Ullstein Verlag erscheint, kennt diese Themen. Ein Skype-Gespräch von Berlin nach Los Angeles.

Melissa Broder © privat

Melissa Broder, gerade erscheint dein erster Roman, der erzählt, was die Liebe zu einem Meermann so mit einem macht. Wie geht’s?
Ich bin ziemlich aufgeregt und nervös. Eigentlich hat es mit dem anonymen Twitter-Account @sosadtoday angefangen, dem mittlerweile 641.000 Leute – darunter auch Katy Perry und Miley Cyrus – folgen. Im Herbst 2012 hatte ich große Probleme mit Angst und Depressionen und es sah so aus, als würde einfach nichts helfen; weder meine Therapie noch dass ich die Medikamente verändert habe. Ich brauchte einen Ort, um diese Gefühle rauszulassen – also hab ich angefangen, meine Tweets in die Leere zu schreiben. Den Rest kennst du ja.

Wie war der Moment, als du beim Interview mit dem „Rolling Stone“ entschieden hast, nicht länger anonym bleiben zu wollen?
Sagen wir’s so: Ich hab viel Zeit damit verbracht, in meinen Therapiesitzungen drüber zu sprechen, weil ich ziemlich nervös war, dass ein paar Leute enttäuscht von mir sein könnten. Aber ehrlich gesagt hat mich niemand wirklich verurteilt – eigentlich waren alle ziemlich cool damit.

Neben psychischen Erkrankungen geht’s bei deiner Twitter-Persona vor allem ziemlich witzig zu. Da gibt’s Tweets wie „a positive emotion can fuck you upforever“ oder: „brb, i’m imagining the worst“. Denkst du, wir könnten ohne Witze überleben?
Keine Chance, ich brauche Humor. Das ist die beste Methode, um Sachen zu bewältigen. SoSadToday ist für mich nicht unbedingt Alter Ego oder eine andere Persona – sondern ein Teil von mir, den ich ausschließlich an diesem Ort zeigen kann und nicht so sehr im täglichen Leben.

Wirst du manchmal dafür kritisiert, dass du zu romantisch mit psychischen Erkrankungen umgehst?
Manche sagen das, ja. Aber ich würde nicht mal sagen, dass es romantisch ist – sondern einfach meine Erfahrung, über die ich auf die Art sprechen können sollte, die ich für richtig halte, oder? Über Erfahrungen von anderen würde ich nicht urteilen wollen.

Was bedeutet das Internet für dich als Künstlerin?
Puh, ich glaube, ich bin einfach internetsüchtig – wie ein Junkie, der hasst, was er macht, aber es einfach nicht lassen kann. Meine Sucht zielt auf die Möglichkeit auf Anerkennung ab – das klappt da ziemlich gut.

Bei deinen Gedichten, deinem Essayband „So Sad Today“ deiner Kolumne für „Vice“ und deinen Tweets geht’s immer um ein Ich, das von Melissa Broder erzählt. In deinem neuen Roman gibt’s aber ein neues Ich – das deiner Protagonistin Lucy, die durch die Story führt.
Das war schon ziemlich super, jemanden zu „bewohnen“, und es war auch eine sehr gute Erfahrung, dass ich das nicht selbst sein musste. Aus der Ich-Perspektive zu erzählen, war nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung, sondern eher wie ich Lucy überhaupt erst kennengelernt hab – und dann auch, wie die Story erzählt werden wollte.

Lucy ist 39 und zieht ins Haus ihrer Schwester, um sich von den Strapazen ihres Lebens zu erholen, unter anderem von einer zerbrochenen Beziehung. Darf man dich fragen, wie viel Persönliches du da fiktional verarbeitest?
Na ja, anders als Lucy hab ich keinen Kontakt zu einem Meermann, aber nichts fängt diese Sehnsucht, einen ewig andauernden Liebesmoment kreieren zu wollen, besser ein als die Beziehung zwischen Menschen und Meermännern. Allerdings kenne ich die meisten Gefühle, die Lucy hat, ziemlich gut.

Welche davon?
Sehnsucht, eine bedrohte Existenz, Depression, romantische Obsessionen … ich kenn das alles.

Was bedeutet romantische Obsession für deine Protagonistin?
Ich würde sagen: Hoffnung. Aber falsche. Und es ist der Versuch, die Leere zu füllen, die wir in uns haben.

Lucy macht viele mehr oder weniger ungesunde sexuelle Begegnungen. Was ist der Unterschied zwischen ihrem Exfreund Jamie, dem Meermann Theo und den Typen, die sie beim Onlinedating trifft?
Na ja, Theo ist ein Teil ihrer Fantasie. Und eigentlich gehören dazu auch die Männer, mit denen sie bei Tinder schreibt – bis sie mit ihnen interagiert und die Fantasie, die sie vorher spinnen konnte, kaputtgeht. Mit Jamie gibt’s keine Fantasie, weil sie mit ihm in einer Langzeitbeziehung ist. Je mehr Distanz es gibt und je unrealistischer die Beziehung scheint, desto mehr Chancen gibt es auf diesen fantastischen Raum, der als Droge funktioniert.

Was bedeutet Fantasie für Lucy?
Flucht. Die Freiheit von Realität und linearem Denken. Aber das kann gefährlich sein, für die schönen Seiten der Realität zumindest.

Sex spielt für sie eine sehr große Rolle. Warum?
Lucy ist einfach eine sehr sexuelle Person und gerade in ihrer Situation ist Sex wahrscheinlich auch der Versuch, dieses große existenzielle Loch zu stopfen, das wir alle kennen, aber nie mit einer anderen Person füllen können.

200 Seiten lang folgt man Lucys Ausführungen und ist ziemlich nah bei ihr. Wie siehst du sie aus der Distanz?
Ich liebe sie sehr. Sie hat zwar ihre Fehler – wie alle menschlichen Lebewesen. Und ich denke, dass sie einen Teil von uns verkörpert, der zwar ziemlich viel Wissen hat, dem aber manchmal das Bewusstsein für ein paar unserer Lebensbereiche fehlt.

Einerseits will sie dringend von ihren Problemen weg und tritt sogar einer Selbsthilfegruppe bei. Andererseits stürzt sie sich Hals über Kopf in alles, was irgendwie nach Ablenkung aussieht. Ist nicht dieses ganze Liebes- und Sexding ein Boykott der eigenen Heilung?
Ja, ich glaube, manchmal ist es halt so, dass man die Medizin nicht akzeptiert. Aber nur weil das so ist, heißt das noch nicht, dass sie nicht funktioniert.

Sie gibt dem Hund einschläfernde Medikamente, um ihren Lover zu daten, und blutet das teure Sofa ihrer Schwester voll. Hat Liebe auch immer ein bisschen mit Zerstörung zu tun?
Nicht notwendigerweise, aber ich würde sagen, es gibt schon immer eine gute Chance darauf.

Fast alle weiblichen Figuren im Buch – unter anderem diejenigen, die mit Lucy in der Selbsthilfegruppe sitzen – leiden unter ihren Beziehungen; außer der Gruppenleiterin, die Krebs überwunden hat.
Das sollte kein allgemeingültiges Statement sein, aber die Frauen, die sich da treffen, haben deutlich an Liebe und Männern gelitten, und in diesem Leid treffen sie sich … Warte, kannst du mal einen Moment dranbleiben?

Klar.

[Das Interview dauert bis jetzt vielleicht 20 Minuten und es ist nicht so richtig klar, was passiert. Am wahrscheinlichsten ist, dass Melissa Broder in Los Angeles in ein Uber oder Taxi einsteigt. Zumindest unterhält sie sich mit jemandem und beschreibt ihm den Weg zu einem Café am Santa Monica Boulevard.]

Ok, hier bin ich wieder. Sorry.

Woher kommt deine Faszination für das Fantastische und die Illusion?
Wahrscheinlich weil ich mich immer so gefühlt habe, als wäre die Welt selbst einfach nicht genug.

Was ist besser: schlechten Sex auf einer Hoteltoilette zu haben, ohne danach zum Drink eingeladen zu werden, oder von einem Meermann ertränkt zuwerden?
(lacht) Das ist eine sehr gute Frage … kommt halt drauf an, was du so magst?

Ja, aber was magst du?
(überlegt lange) Sagen wir’s so: Ich hab beides überlebt.

Glaubst du, dass die Sachen, die einen am meisten quälen, auch die Sachen sind, die man braucht, um zu wachsen?
Ich würde Ja sagen. Ich denke, dass wir in die Sachen, die in unserem Leben auftauchen und uns Schmerzen bereiten … das ist unser Ding, da müssen wir rein.

Melissa Broder „Fische“
 Ullstein Verlag, 352  S., 21 Euro

Danke. Sag mir noch, wie du’s findest, auf einer Bühne zu stehen und dein Zeug da zu präsentieren. Macht dich das eher nervös oder stolz?
Das hängt immer von meiner Tagesform ab – manchmal plage ich mich mit einer Tonne von Angst rum und will einfach nur, dass es vorbei ist; manchmal bin ich aber auch einfach total im Flow und kann mir nichts vorstellen, das ich mehr liebe.

Melissa und ich verabschieden uns voneinander, aber das Skype-Gespräch läuft noch zwei, drei Sekunden weiter, sodass man hört, was sie zum potenziellen Taxi- oder Uber-Fahrer sagt. Es ist: „Sorry.“