Von Verena Reygers

Neko, im Titelstück zu deinem neuen Album „Hell-On“ singst du sowohl über Gott als auch über deine Stimme. Wem vertraust du mehr?
Tja, meine Stimme, die akzeptiere ich einfach so, wie sie ist. Manche Leute denken, das hieße, ich könne sie nicht leiden, aber das stimmt nicht. Jede*r Sänger*in ist sich sehr bewusst über die Möglichkeiten einer Stimme und die Begrenzungen der eigenen. Das muss man akzeptieren. Und was Gott betrifft: Die Zeile ist eher als Rätsel zu verstehen, das eine Unterhaltung auf eine neue Ebene bringen soll. Es ist ein sehr persönlicher Song, der auch ein bisschen rätselhaft wirkt. Aber so ist es eben mit Songs. Sie beschreiben etwas, das du anders nicht ausdrücken kannst.

© Emily Shur

Ein anderes Wort, das du oft benutzt, ist „wild“. In „Hell-On“ singst du: „I’m a wilderness, yes.“ Und im finalen Song „Pitch Or Honey“: „Hey, I love you better when you’re wild“, auch dazwischen taucht das Wort immer wieder auf. Was steckt dahinter?
Das passt zu deiner ersten Frage nach Gott: Ich finden keinen Halt im Glauben. Die Menschen denken, sie seien die wichtigste Schöpfung. Aber das sind sie nicht – bei Weitem nicht. Egal, was wir tun oder wie fortschrittlich wir sind, wir sind der Natur ausgeliefert. Das ist ein enormer Trost für mich. Es erinnert mich an unseren Platz auf dieser Erde und daran, dass das, was uns tagtäglich widerfährt, im Grunde nicht der Rede wert ist.

Das klingt ziemlich gelassen, verglichen mit dem Titel deines letzten Albums „The Worse Things Get, The Harder I Fight, The Harder I Fight, The More I Love You“.
Meine letzte Platte entstand aus einem ähnlichen Gefühl heraus, aber da war ich noch zu sehr verstrickt im Prozess.

© Emily Shur

Es scheint, dass das Buch „The Amazons“ von Adrienne Mayor dir dabei geholfen hat, dich zu „entstricken“. Aber Amazonen sind ja eigentlich Sagenfiguren.
Sie haben wirklich existiert. Und es waren nicht nur Frauen. Stattdessen haben Männer und Frauen in einer gleichberechtigten Welt gelebt, in der nicht nach Geschlecht, sondern nach Fähigkeiten und Interessen bewertet wurde. Das alles steht in diesem großartigen Buch!

Wie kamst du darauf?
All das hat mich einfach fertiggemacht: die Zustände, die Gesetze, mein Land, wo Frauen gehasst werden – wie an so vielen anderen Orten der Welt auch. Ich musste herausfinden, an welchen Punkt die Gesellschaft angefangen hat, Frauen zu benachteiligen, sie abzulehnen. Also habe ich sehr viel recherchiert und gelesen, unter anderem Mayors Buch.

Das klingt nicht nur wütend, sondern auch um Klärung bemüht.
Ja, es macht mich wütend zu sehen, wie die Geschichtsschreibung Frauen einfach ausspart. Wir sind keine Nebendarstellerinnen oder Babymaschinen, auch wenn wir so behandelt worden sind. Ich weiß, es hat immer starke und handelnde Frauen gegeben – sie sind bloß ignoriert worden. Aber das ändert sich. Aktuelle Forschungen untersuchen ihre Geschichte neu. Und natürlich macht es mich genauso wütend, für eine Bildung bezahlt zu haben, die Frauen nicht beinhaltet. Doch jetzt bin ich klüger. Und froh zu sehen, dass die jungen Menschen beginnen, die Dinge anders sehen. Meine Stieftochter ist jetzt neun, und sie nimmt so viele Sachen für selbstverständlich, die es für mich nie waren. Das berührt mich sehr.

Apropos Zeitgeschichte: Thematisierst du in „Last Lion Of Albion“ den Brexit? Schließlich ist Albion der urtümliche Name für England …
Das könnte man denken. Aber es ist eher ein symbolischer Song. Löwen stehen für Stärke und Kraft, und wir nutzen ihr Symbol auf Flaggen und Wappen. In „Last Lion Of Albion“ fantasiere ich von einer großen Löwenmeute, die den Menschen ähnlich veräußert: uns frisst und auf Geldscheinen oder T-Shirts abbildet.

Du selbst lebst zwischen den Kulturen, du bist US-Amerikanerin, hast aber auch jahrelang in Kanada gewohnt und warst dort kreativ aktiv. Wie nimmst du die Unterschiede zwischen den beiden Ländern wahr?
Ich lebe zwar aktuell in Vermont, aber bin nahe der kanadischen Grenze aufgewachsen. Ich würde gar nicht so sehr zwischen USA und Kanada unterscheiden, sondern eher von einer nordamerikanischen Mentalität sprechen. Schließlich sind beide Staaten weit davon entfernt, „nett“ zu den Native Americans zu sein. Aber trotzdem hat mir Kanada in vielen Dingen die Augen geöffnet. Und nicht nur, weil ich dort gelernt habe, mit Messer und Gabel zu essen (lacht). Es ist toll, in einem Land zu leben, das Kultur schätzt und Künstler*innen unterstützt, indem es ihnen die Möglichkeit gibt, als Botschafter*innen in aller Welt zu wirken.

Vor deiner Solokarriere bist du als Mitglied der New Pornographers bekannt geworden. Wie blickst du auf diese Zeit zurück?
Ich bin damals zu der Band gestoßen, weil ich Teil von etwas sein wollte. Ich bin Einzelkind, quasi nur in Gemeinschaft mit meinen Eltern gefühlt am Ende der Welt aufgewachsen. Ich war ziemlich einsam und habe wenig Kontakt zu anderen Menschen gehabt. Ich musste lernen, mit anderen in Kontakt zu kommen. Dann habe ich gemerkt, dass ich eigentlich alles andere als schüchtern bin. (lacht)

Zumindest mutig genug, um zusammen mit Laura Veirs und k.d. lang 2016 ein Album herauszubringen.
Du meinst, dieses Album mit den zwei rauchenden Babes? (lacht) Das war eine interessante Herausforderung, weil wir von Anfang an beschlossen hatten, gemeinsam an den Songs zu arbeiten. Das ist eher ungewöhnlich bei solchen Kollaborationen. Wir aber haben es so gemacht und gelernt, uns trotz unserer unterschiedlichen Charaktere gemeinsam durch die Arbeit zu navigieren und ein Team zu werden.

Neko Case „Hell-On“ (Anti-Records/Indigo)

Was war für dich dabei die größte Herausforderung?
Die beiden arbeiten ganz anders als ich, schon allein deswegen, weil sie immer gut organisiert und perfekt vorbereitet sind. K.d. weiß genau, was sie hören will, sie kann es exakt beschreiben und ist die perfekte Produzentin. Laura ist ebenfalls hervorragend vorbereitet, erweitert ständig ihre Fähigkeiten an der Gitarre. Sie will nicht, dass sie jemanden fragen muss, was sie da tut. Ich dagegen bin der Typ, der den freien Fall bevorzugt. Ich schlage mit ein paar mehr oder weniger fertigen Songs auf und schaue, was passiert. Aber die Zusammenarbeit hat mich auch sehr dazu inspiriert, mehr zu produzieren.

Laura Veirs‘ Ehemann Tucker Martine hat das Album produziert, nicht wahr?
Ja, Tucker hatte „The Worse Things Get …“ produziert, daher stammt die Idee für unsere „case/lang/veirs“-Platte. Tucker war eigentlich das vierte Bandmitglied. Er ist toll. Er hat seine eigenen Ideen und weiß, sie genügen. Er fühlt sich nicht bedroht davon, was andere Frauen oder auch andere Männer tun. Er kann einfach Tucker Martine sein. Das ist etwas, das jedes menschliche Wesen haben sollte, dieses Gefühl, einfach präsent und dabei er*sie selbst zu sein.