Das Problem heißt Macht
Von
Von Sonja Eismann
Vor Kurzem wurde ich nach einer feministischen Diskussionsveranstaltung von einem jungen Mann gefragt, wie ich zu nackten Männerkörpern in der Öffentlichkeit stünde. Er wollte von mir wissen, ob ich fände, dass Männer aus feministischer Solidarität mit Frauen auf dieses Privileg verzichten sollten, da Frauen dieses – zumindest vermutlich in den meisten Regionen der Welt – derzeit nicht besäßen. Ich zerbrach mir den Kopf über eine „richtige“ Antwort (die ich letztlich natürlich nicht geben konnte) und freute mich. Nicht darüber, dass immer noch stärker über weibliche Körper als über männliche bestimmt wird, sondern darüber, dass dies ein dringliches Anliegen eines jungen Mannes war, dem es offensichtlich wichtig war, Frauen weder zu verletzen noch einzuschränken. Wenn das die essenziellen Fragen sind, über die es jetzt noch zu diskutieren gilt, sind wir ja schon bei den Feinheiten angelangt, dachte ich mir erleichtert.
Aber so ist es, außerhalb der freundlich-feministischen Blase, in der ich mich so oft bewegen darf, natürlich nicht. Während der Veranstaltung selbst war es auch um die leider immer noch nicht überholten Klassiker wie Sexismus und sexualisierte Gewalt gegangen, und ich stellte mir danach eine Frage, die ich mir schon sehr oft gestellt habe und bei der ich mich wundere, warum sie nie in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wird: Warum haben sich während der #metoo-Debatte unzählige Personen geöffnet und von dem berichtet, was sie erleiden mussten, viele Frauen und auch ein paar Männer, aber warum wurde nie die andere Seite befragt? Warum wurde nie erforscht und debattiert, was Leute dazu treibt, andere solchen Formen von Gewalt auszusetzen? Sich einfach über psychische und physische Grenzen hinwegzusetzen, ohne jedes Interesse am Willen der anderen Person?
Selbstverständlich war und ist mir klar, dass es wohl kaum jemals eine Hashtag-Flut à la #IwasAnAsshole oder #PleaseHelpMeToBecomeASensitiveFeministIndividual geben wird – und dass es aus feministischer Sicht höchst problematisch wäre, wenn auf einmal Täter*innen große Aufmerksamkeit bekämen und sich eventuell noch selbst als Opfer gerieren oder ihre Position unwidersprochen verteidigen könnten. Außerdem haben wohl die wenigsten Menschen Lust, sich in einer nicht gerade vor verständnisvoller Zärtlichkeit strotzenden (sozialen) Medienlandschaft als Bösewichte zu outen, um dann an den Pranger gestellt oder von Shitstorms überkübelt zu werden.
Aber da ist noch etwas: Es übersteigt zwar meinen affektiven Gedankenhorizont (wenn es so etwas gibt), aber dennoch bin ich überzeugt davon, dass viele Personen das Unrecht ihres Handelns nicht sehen (wollen). Damit meine ich nicht einmal, dass sie das „Nein“ oder den Widerwillen oder die Angst ihres Gegenübers nicht wahrnehmen, sondern dass sie davon ausgehen, dass es ihnen trotzdem zusteht, so zu handeln, wie sie es möchten. Einfach deswegen, weil sie in diesem speziellen Moment oder in mehr oder weniger allen Momenten die Macht dazu haben. Und Macht korrumpiert.
Vor einer Weile erschien in der „taz“ ein Artikel, in dem ein männlicher Journalist sich zu einer Art persönlichem #metoo-Moment äußerte und sich dabei auch fragte, ob es ihm zustehe, dies selbst so zu empfinden. Er schilderte, wie eine ihm kaum bekannte, hierarchisch weit über ihm stehende ältere Frau in seinem Arbeitsumfeld vor den Augen von Kolleg*innen auf der Suche nach Speckröllchen sein Jacket zur Seite geschoben und ihn in seine Taille gekniffen habe. Für sie war es vermutlich ein harmloses Geplänkel, für ihn eine demütigende Erfahrung. Meine erste Regung beim Lesen war eine ablehnende Haltung, nach dem Motto „Was stellt der Dude sich so an, das ist ja ein Witz gegen all die Übergriffe, die Frauen jahrtausendelang ertragen mussten“, aber nach einer Weile des Nachdenkens fielen mir andere Vorfälle ein. Ein Bekannter, dem von seiner Chefin vor wichtigen Geschäftspartnern mit den Worten „Tu das Ding runter, du bist doch kein Berufsjugendlicher“ die Basecap vom Kopf genommen worden war. Oder mein eigenes Verhalten früher, als ich eine Zeit lang einem Mann in meinem Umfeld öfters auf den Hintern geklopft hatte, obwohl er mehrfach geäußert hatte, er möge das überhaupt nicht. Ich jedoch fand es „lustig“ und wollte einfach nicht glauben, dass es ihm wirklich nicht gefiel. Vielleicht war es mir auch egal – mir gefiel es und ich hatte wohl den Eindruck, das stünde mir zu.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto unangenehmer ist es mir natürlich, aber es hat mir noch einmal klargemacht, was wir sowieso schon alle längst wissen: Das Problem heißt Macht. Klar wurde das innerhalb der #metoo-Debatten bereits thematisiert, aber nur im Hinblick darauf, dass Frauen beigebracht werden soll, wie sie sich vor zu viel Macht schützen oder wie sie selbst sich mehr von ihr auf sich konzentrieren können und dadurch unverletzbarer werden. Doch ich glaube eben nicht, dass wir es mit einer Neu- oder Umverteilung lösen können, im Sinne von „Wir brauchen mehr Frauen in Machtpositionen“ oder „Wir müssen nur alle Schwachen empowern“ etc. Denn Macht funktioniert nur dann als solche, wenn es auch Machtlose gibt.
Dieser Aspekt geht in den gängigen #metoo-Debatten wie auch in vulgärfeministischen Schlussfolgerungen dazu meiner Meinung nach unter. Es kann nicht das Ziel sein, machtvolles und damit immer auch verletzendes, unterjochendes Verhalten zu kopieren, sondern darum, die Mechanismen von Machtdynamiken an sich aktiv zu verlernen. Auch wenn gesellschaftlich immer etwas anderes suggeriert wird: Macht ist ungeil, weil sie immer auch bedeutet, sich über die Wünsche und Anliegen anderer hinwegzusetzen.
Damit sage ich nicht, dass all jene, die in unserer nach wie vor patriarchal-rassistischen Gesellschaft über keine Macht verfügen, sich mit diesem Zustand arrangieren sollen. Stattdessen wünsche ich mir, dass wir alle zusammen für eine utopische Form des Zusammenlebens ackern, in der Jungs und Männern und all denen, die bis heute näher am Machtpol sind, beigebracht wird, sich von dieser loszusagen, genau wie wir auch jetzt schon ganz real beibringen müssen, nicht zu vergewaltigen, statt nicht vergewaltigt zu werden. Damit wir uns alle, und nicht nur ein paar Privilegierte von uns, ebenbürtig und frei begegnen können. Ob wir uns dann in dieser Utopie mit nacktem oder bedecktem Oberkörper gegenüberstehen, ist für mich ehrlich gesagt nicht so wichtig.