Von Janne Knödler

„Prekarität ist überall“, meinte der französische Soziologe Pierre Bourdieu schon 1997. Im 21. Jahrhundert gilt: Prekarität durchzieht alle Gesellschaftsschichten und Lebensbereiche. Prekarität, das bedeutet Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit. Der Begriff wird meistens auf den Arbeitsmarkt bezogen und beschreibt dort „die Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis“. Das Normalarbeitsverhältnis ist unbefristet, wird in Vollzeit ausgeübt und tariflich entlohnt. Wer einen solchen Job ergattert, ist außerdem vollständig in das Sozialsystem eingebunden – hat also Zugang zu Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung.

„Normal“ ist dieses Arbeitsverhältnis aber heute nicht mehr. Stattdessen lautet das Credo des 21. Jahrhunderts „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“. Das klingt erst mal positiv, heißt aber vor allem, dass der Anteil an Leiharbeit, befristeten Stellen, (Schein-)Selbstständigkeit und geringfügigen Beschäftigungen steigt. Dies bietet Arbeitgeber*innen eine willkommene Gelegenheit, Tarifverträge und Sozialversicherungsabgaben zu umgehen. Prekär ist eine Beschäftigung vor allem dann, wenn sie nicht mehr zur dauerhaften Existenzsicherung reicht.

Im Prekariat verlieren die traditionellen Interessenvertretungen an Bedeutung. Eindrückliches Beispiel sind die Gewerkschaften: Sinkende Mitgliedszahlen schwächen die Verhandlungsposition von Arbeitnehmer*innen. Die Bindung an den Arbeitsplatz lässt nach, Solidarität und Kollegialität schwinden. Weil in unserer Gesellschaft Identität stark an den Job geknüpft ist, bedeutet Prekarisierung oft auch den Verlust von Anerkennung durch andere.

Aber zur Peitsche gehört auch ein Zuckerbrot. Theoretisch bietet Prekarität die Möglichkeit, flexibel zu arbeiten und eigenen Interessen nachzugehen, mehr Entscheidungsmacht über Arbeitszeiten zu haben, bei Freiberufler*innen gar: eigener Boss zu sein. Doch diese Freiheiten kommen in der Praxis, wenn überhaupt, nur einigen wenigen zugute. Stattdessen werden im Prekariat die Disziplinierungsmechanismen nämlich nach innen verlagert: Weil wir alleine verantwortlich für (Miss-)Erfolge sind, muss niemand aufpassen, dass wir ordentlich arbeiten – das machen wir selber. Und so zwingt uns das Leben im Prekariat zur Vermischung von Arbeit und Freizeit, zu ständiger Verfügbarkeit, und führt dazu, dass wir die Strukturen, in denen wir uns befinden, nicht oder seltener hinterfragen. Wir sind ja schließlich selbst verantwortlich für unsere Arbeitszeit, oder?

Auch wenn die Prekarität überall ist, betrifft sie nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. Prekarisierung muss intersektional gedacht werden: Wer bekommt noch unbefristete Arbeitsstellen? Wessen Gehalt reicht aus, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben? Das Risiko, prekär zu arbeiten, betrifft nicht alle Menschen gleich. Klasse, Geschlecht, Bildungshintergrund, Alter, körperliche und mentale Gesundheit spielen dabei eine Rolle. Dauerhafte Prekarität ist zwar nicht mit Armut oder Marginalität gleichzusetzen, tritt dort aber gehäuft auf.

Doch auch wenn wir uns an die Goldenen Zeiten des Normalarbeitsverhältnisses erinnern, blicken wir auf ein zutiefst sexistisches, klassistisches und rassistisches System zurück. Weder Gewerkschaften noch staatliche Institutionen noch Arbeitgeber*innen haben sich historisch viel Mühe gegeben, alle Mitglieder der Gesellschaft zu repräsentieren. So sollten wir die Prekarisierung als Anlass nehmen, Interessenorganisation neu und besser zu denken: nicht-repräsentativ, nicht-hierarchisch und in Netzwerken organisiert.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/18.