Von Tove Tovesson

Nach meiner letzten Kolumne über Incels bekam ich die auch in der bisherigen Debatte oft vertretene Rückmeldung, ich ignoriere, dass Incels selbst eine marginalisierte Gruppe seien, teilweise mit schweren sozialen Beeinträchtigungen (Stichwort Autismus). Darauf möchte ich an dieser Stelle noch mal eingehen.

Caravaggio revisited: Holofernes köpft sich selbst und Judith hat keine Lust darauf, sich als Sündenbock für toxische Männlichkeit abstempeln zu lassen. © Tine Fetz

Ob Incels häufiger Autisten sind oder soziale Einschränkungen haben, die durch irgendeine Neurodivergenz bedingt sind, kann ich nicht beurteilen, weil es dazu meines Wissens keine Daten gibt. Vor einem Monat wurde auf Reddit unter r/IncelsWithoutHate die Frage gepostet, ob jemand der Anwesenden autistisch sei und sich als Incel identifiziere. Die Gruppe schließt explizit Hass aus und will eine positivere Diskussion als das gelöschte r/Incels ermöglichen. Neun Kommentare. Soziale Isolation und soziale Probleme sind jedoch ein einigermaßen gängiges Thema auf r/IncelsWithoutHate. Das Problem daran, Incels pauschal als Autisten oder anders Abweichende zu verstehen, ist das negative Bild von Autist*innen, das damit eigentlich transportiert wird, nämlich des Klischee-Nerds mit pathologisch gewalttätiger Tendenz qua Autismus. Dass Autist*innen gewalttätig (also: gewalttätiger als neurotypische Menschen) sein sollen, ist schlicht falsch und Teil des Stigmas, das seit Beschreibung von Kanner- und Asperger-Autismus besteht. Die Korrelation kann demnach gar nicht „Autist – Frauenhass“ sein (und ist, wie aus der Gruppe r/IncelsWithoutHate hervorgeht, auch nicht zwingend „Incel – Frauenhass“), sondern ist „Mann – Frauenhass“.

Es führt einfach kein Weg daran vorbei, dass es Männer als Gruppe und als Individuen sind, die sich mit dem Problem namens hegemoniale Männlichkeit befassen müssen, da es Gewalt gegen Frauen hervorbringt. Ich mag dieses Argument nicht, aber tatsächlich wäre es auch besser für sie selbst. Ganz eindrucksvoll zeigt dies der Dokumentarfilm „The Feminist on Cellblock Y“, den man gratis und legal streamen kann. Der Film handelt von Richie „Reseda“ Edmond-Vargas, der als Gefängnisinsasse, angeregt durch seine Frau Taina Vargas-Edmond, beginnt, feministische Literatur zu lesen, und schließlich Workshops zum Thema Patriarchat und toxische Maskulinität für Mitinsassen anbietet, in denen er Männlichkeit in der gesellschaftlich validierten Form als Ursache für individuelles und gesellschaftliches Übel herausarbeitet. „Choosing manhood over personhood“, beschreibt er mit bell hooks das Problem und schafft es im Gegensatz zu jedem Männerrechtler, der mir je untergekommen ist, tatsächlich auch das Leiden von Männern am Patriarchat zu thematisieren. Dass Männer im Patriarchat emotional depriviert sind, dass sie nicht lieben können und dass hierbei Männlichkeit das Problem ist und Frauen nicht die Lösung sind.

Sogenannte Männerrechtler et al. können das Wohl von Männern allerdings nur auf Kosten von Frauen verwirklicht sehen, was immer bedeuten wird, bestehende Verhältnisse zu zementieren oder gar erkämpfte Freiheiten wieder zu entziehen. Ganz in diesem Sinne ist F. Roger Devlins Incel-Bibel „Sex Macht Utopie“ geschrieben. Worin die Utopie bestehen soll, ist für Menschen, denen das Mittelalter im Gegensatz zu Devlin nicht zu hell war, schwer nachzuvollziehen, aber gemeint ist wohl eine Art „The Handmaid’s Tale“. Wenn es nach Devlin ginge, würden an Männer Essensmarken für Sex verteilt, die bei jeder Frau einzulösen wären. Neben konsistent widerwärtigstem Frauenhass wartet das Buch noch mit völlig kaputten Natur- und Kulturbegriffen auf, deren Verknüpfung im naturalistischen Fehlschluss liegt, also der Ableitung eines Sollens aus dem Sein. Wir müssten zu einer Ordnung zurückkehren, die der „primitiven menschlichen Natur“ gerecht würde. Diese primitive menschliche Natur ist ein Phantasma der Pseudowissenschaft Evolutionspsychologie, einer Art rückwärtsgewandten Astrologie für Männerrechtler, bloß dass Astrologie harmlos ist und Männerrechtler mit Evopsych z. B. Vergewaltigung legitimieren.

Damit hat Devlin aber keine Probleme, vielmehr befürchtet er, quasi neandertalbedingt Frauen nicht rational genug hassen zu können: „Der Autor verfügt über keine angemessene Distanz zur Materie; Reize aus dem limbischen System (vor allem der männliche Beschützerinstinkt) verdrängen die sorgfältige Beobachtung und behindern eine kalte Analyse.“ Wer kennt es nicht, dass Männer einfach viel zu nett zu Frauen sind, weil Beschützerinstinkt … Nach dem Querlesen des Buchs denke ich, dass zumindest Devlin diesen Instinkt sehr gut im Griff hat, ohne dass dadurch Raum für „sorgfältige Beobachtung“ oder irgendeine Analyse entstanden wäre. Der Autor hat tatsächlich keine angemessene Distanz zur Materie, bloß anders als er denkt. Die Materie sind eben nicht Frauen und ihre sexuelle Selbstbestimmung, sondern Männlichkeit und ihre Selbstbegründung in Herrschaft über Frauen. Immer wieder kommt Devlin selbst darauf zu sprechen, erkennt es jedoch nicht, dass er den Machtverlust fürchtet. Er fürchtet Anarchie. Er fürchtet die Freiheit der anderen. Sie ist ihm unerträglich. In diesem Sinne: auf die Freiheit!