Interview: Hengameh Yaghoobifarah

Vom Sandkasten bis ins Senior*innenheim: Wie verändern sich Freund*innenschaften in unterschiedlichen Lebensphasen?
Julia Hahmann: Erste Freund*innenschaften entstehen im Alter von drei bis fünf Jahren. Diese besitzen dann für eine lange Zeit eine sehr hohe Relevanz. Insbesondere wenn es um Ablösungsprozesse innerhalb der Pubertät und die Etablierung von neuen oder alternativen Familienstrukturen geht, falls es in der Herkunftsfamilie nicht so gut läuft. Das zieht sich sehr stark durch die Ausbildungsphase – bis milieuspezifische Unterschiede auftauchen. Vor allem wenn etwa Paare Familien gründen, fallen Freund*innenschaften aus dem Lebenszentrum heraus.

Wie ist das für Personen, die queer sind, keine Familie gründen oder es erst verzögert tun? Für sie bleiben Freund*innenschaften oft auch im jungen bis mittleren und höheren Erwachsenenalter relevant, da sie eine Form von Wahlfamilie darstellen. Sie begleiten stark den Alltag, sie sind für viele Unterstützungsleistungen relevant, bieten emotionale Nähe und überdauern romantische oder sexuelle Beziehungen. Im höheren Erwachsenenalter beobachte ich häufig familialistische Haltungen, etwa Sprüche wie „Blut ist dicker als Wasser“, meistens von heterosexuell verpartnerten Personen. Partner*in und Kinder sind für sie die wichtigsten Ansprechpartner*innen. Gleichzeitig gibt es auch den Trend, dass ältere Menschen in Freund*innenschaften investieren und sich stärker auf sie konzentrieren, weil eben Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit wegfallen – oder sich zumindest verändern. Diese neu gewonnene Zeit wird mit Freund*innen verbracht.

Welche Bedeutung hat Klassenzugehörigkeit in Freund*innenschaften?
Klasse ist relevant, weil die Klassenlage den Lebenslauf und Mobilitätsmuster bestimmt. Natürlich gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Herkunft, Klasse und Ausbildungswegen. Wenn man nie umzieht, verändern sich Freund*innenschaften viel stärker, weil sie lebenslang, aber dafür homogener sind als bei Menschen, die ihren Lebensort wechseln.
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass es aufgrund der Klassenzugehörigkeit Unterschiede in den Inhalten von Freund*innenschaften gibt, also z. B. dass Menschen aus der Arbei-ter*innenklasse ihre Kontakte eher anlassbezogen organisieren und sich beim gemeinsamen Hobby treffen, anstatt sich aufgrund der Beziehung selbst zu verabreden. Das halte ich aber für wenig plausibel und wäre vorsichtig. Es kommt immer darauf an, wie man sich Freund*innenschaften anguckt. Sie beinhalten fast immer intime Nähe, das Sprechen über persönliche Probleme und gemeinsames Verbringen von Freizeit. Es gibt Abstufungen darin, welche Themen verhandelt werden, aber wenn man die groben Konzepte anguckt, ist das eigentlich überall ähnlich.  

©Jennifer Endom

Durch die sozialen Netzwerke bekommt man von den politischen Haltungen von Schulfreund*innen heutzutage mehr mit als früher, als sich solche Dinge nur im persönlichen Gespräch herauskristallisiert haben. Aber dass Freund*innen aufgrund unterschiedlicher politischer Haltungen auseinanderdriften, ist nicht neu, oder?
Nein. Ältere Umfragen über Parteipräferenzen von Freund*innen zeigen: Wenn Freund*innen einzeln befragt werden, welche Partei sie wählen, sagen sie meistens, dass sie davon ausgehen, dass ihre Freund*innen das Gleiche tun – obwohl die Präferenzen tatsächlich selten übereinstimmen. Parteipräferenzen sind leicht erfassbare Konstruktionen, politische Haltungen lassen sich aber in sehr kleinteilige Fragen aufdröseln: Von Nachhaltigkeit bis hin zu Animal Liberation gibt es bspw. ein weites Spektrum an Differenzierung.
Wenn sich etwa jemand plötzlich als rechtsgesinnt herausstellt, werden Freund*innenschaften sicherlich schnell beendet. Gleichzeitig sind Menschen in langen und engen Freund*innenschaften miteinander großzügiger, wenn es um unterschiedliche politische Haltungen geht. Es müssen schon harte Themen sein, die das Individuum stark beschäftigen, bis es wirklich zur Auflösung der Beziehung kommt.   Wenn es Themen sind, die die Identität stark ausmachen, oder es wichtige Prozesse wie eine geschlechtliche Transition sind, müssen Freund*innenschaften oft neu verhandelt werden. Entweder die Freund*innenschaften kommen dann auf ein höheres Niveau oder sie scheitern, indem sie auslaufen oder konkret gebrochen werden.

Apropos Schlussmachen: Es gibt über Break-ups in Liebesbeziehungen ganz viele Songs, Filme und Ratgeber. Bei Freund*innenschaften gibt es solche großen Diskurse nicht. Warum? Das liegt daran, dass im Mainstreamdiskurs Partner*innenschaften exklusiv sind. Da muss man Schluss machen, um neue Bindungen einzugehen. Bei Freund*innenschaften ist es nicht so. Sie können nebeneinander existieren. Insgesamt werden Freund*innenschaften sehr stiefmütterlich behandelt, auch in der soziologischen Forschung. Sie sind auch sehr individuell: Wie viel Kontakt muss man haben, damit man sagen kann, man ist befreundet? Wie lange muss man sich kennen? Es gibt kein Initiationsereignis wie einen ersten Kuss oder einen Zeitpunkt, an dem der Beziehungsstatus thematisiert wird. Das macht es schwerer, sie zu erforschen.

Haben homogene Freund*innenschaften eine größere Chance, lange zu bestehen? Unterschiedliche Positionierungen können Herausforderungen sein. Im Idealfall hält Freund*innen aber so etwas wie eine Seelenverwandtschaft zusammen. Was Freund*innenschaften besonders macht, ist, dass es gewählte Beziehungen sind – im Gegensatz etwa zu Kolleg*innen. Unterschiedliche Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten in Freund*innenschaften sind Herausforderungen und empirisch betrachtet seltener, aber sie müssen nicht deren Lebensdauer verkürzen. In der Soziologie der Liebe bezeichnet man Beziehungen zwischen sehr unterschiedlich positionierten Personen als „Romeo und Julia“-Phänomen. Das Strapazieren von außen kann die Beziehung also sogar noch weiter vertiefen.

Welche Rolle spielen Alltäglichkeit und geografische Nähe in Freund*innenschaften? Durch soziale Medien können Menschen trotz geografischer Distanz miteinander ihren Alltag teilen. Es gibt aber auch Freund*innenschaften, die sehr gut ohne einen geteilten Alltag auskommen. Viele kennen die Beschreibung: Ich sehe die Person nur einmal im Jahr, aber dann ist es so, als wären wir jeden Tag zusammen. Das zeichnet ganz besondere Bindungen aus. Dieses Narrativ wird in jeder Altersgruppe verwendet, um die Qualität von Freund*innenschaft zu beschreiben.


Soziale Medien und ihr Einfluss auf Beziehungen haben einen schlechten Ruf. Tinder hat vermeintlich die Liebe ruiniert, Facebook Freund*innenschaften. Ist es wirklich so schlimm?
Das ist eine sehr kulturpessimistische Haltung. Menschen wissen in der Regel sehr genau, wie nahe ihre Bindungen zu unterschiedlichen Leuten sind, obwohl alle auf Facebook gleichermaßen als „Freund*innen“ bezeichnet werden. Mit sozialen Medien kommen auch immer Formen von Überforderung in die Beziehung, wenn bspw. eine Nachricht nicht sofort beantwortet wird. Ob das wirklich die Qualität von Freund*innenschaften beeinträchtigt, finde ich schwierig festzustellen. Historisch gesehen gab es weitaus drastischere Herausforderungen für Freund*innenschaften: Im Nationalsozialismus z. B. hat eine Freundin die andere verraten. Ist das unsere Referenzgröße? Oder die Zeit, in der Männer und Frauen nicht miteinander befreundet sein sollten? Oder als Männer sagten, sie seien beste Freunde, obwohl sie eigentlich ein homosexuelles Paar waren?

Freundinnenschaften werden oft stereotyp dargestellt. Hat sich das geändert?
Meine Wahrnehmung der Forschungslandschaft ist eher, dass Frauenfreundschaften bzw. Freundinnenschaften als besonders warm, weich, zärtlich und stark unterstützend beschrieben werden. Das hängt auch damit zusammen, welche Eigenschaften wir im Westen weiblich gelesenen Körpern zuschreiben. Wenn zwei Frauen Händchen halten, werden sie nicht automatisch als lesbisches Paar gedeutet. Bei zwei in der Öffentlichkeit kuschelnden Männern wird die Heterosexualität jedoch infrage gestellt. In der Forschung werden eher Männerfreundschaften sehr stereotyp gezeichnet. In Wirklichkeit aber unterscheiden sich Männer- von Frauenfreundschaften nicht so krass.

Wie unterscheiden sich Mädchen- von Frauenfreundschaften?
In der Sozialisation von Mädchen wird früh das Konstrukt der besten Freundin angelegt, eine Person, die man immer unterstützt, mit der man immer abhängt und über die man sagt: Das ist meine beste Freundin. Das liegt daran, dass von Mädchen und Frauen erwartet wird, dass sie „Sozialnudeln“ sind und sich mehr umeinander kümmern. Dieses Narrativ führt sich auch bei Frauen fort. Was sich verändert, ist die alltägliche Stellung von Freundinnen, die aufgrund von Lohnarbeit und Reproduktion viel kürzer kommt als in der Kindheit und Jugend.

Wenn wir von heteronormativen Lebensweisen ausgehen, fällt für Frauen mit zunehmendem Alter mehr Reproduktionsarbeit an. Haben Männer einen Vorteil, ihre Freundschaften aufrechtzuerhalten, weil sie mehr Freizeit haben?
Da gibt es gegenläufige Effekte. In diesem Bild nehmen sich Männer anders Zeit, indem sie etwa zusammen ein Bier trinken gehen. Doch Sorgearbeit beinhaltet auch Beziehungspflege. Dadurch haben Frauen qualitativ und quantitativ bessere Kontakte. Über die Kinderbetreuung können sie auch mit anderen Müttern neue Kontakte knüpfen. 

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/18.