Interview: Margarita Tsomou

Silke, du bist Professorin für politische Soziologie in Jena und problematisierst die These, dass das Erstarken der Neuen Rechten mit einer Vernachlässigung der sozial Abgehängten in Verbindung steht. Was sind die Hauptstränge dieser Debatte?
Was mich beschäftigt, sind die Diagnosen, die den Schwenk nach Rechts als „Notwehr der unteren Schichten“ gegen ein im Neo­liberalismus verletztes soziales Anliegen sehen. Da in den meisten Ländern die sozialdemokratische Politik neoliberal geworden sei, gäbe es, so das Argument, für dieses berechtigte Gefühl der fehlenden Gerechtigkeit keine anderen politischen Adressaten mehr als die Rechten. Ein weiterer Argumentationsstrang erklärt, dass die Leute sich auch kulturell ausgeschlossen fühlten, weil eine vermeintlich bildungsnahe, akademische linke Identitätspolitik zu dominant geworden sei, was gerne mit dem endlos zitierten Beispiel der Transgender-Toiletten illustriert wird. Es gäbe ein kulturelles Abgehängt-Sein, das die „normalen Menschen“ betreffe, die meistens als weiße Männer gedacht werden. Daraus folgend wird unterschieden zwischen den eigentlichen Klassenanliegen, die vernachlässigt worden seien, und den identitätspolitischen „Minderheitenanliegen“ von Migrant*innen, LGBTQI-Menschen, Menschen mit Behinderung und interessanterweise auch von Frauen.

Ein wichtiger Bezugspunkt in dieser Argumentation ist Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“. Warum?
Eribon beschreibt am Beispiel seiner Familie anschaulich, wie aus französischen Kommunist*innen im Laufe der letzten Jahrzehnte Front-National-Wähler*innen wurden. Er beschreibt auch, dass sie schon als Kommunist*innen rassistisch waren, ihr Rassismus aber von der Partei eingehegt wurde. Genau dieser Aspekt wird in der Rezeption jedoch oft ignoriert: Leute wie die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser oder die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht erklären, dass AfD- oder Trump-Wähler*innen keine Rassist*innen seien, sondern nur für ihre sozialen Rechte kämpfen. Diese Haltung verkennt, dass, auch wenn Rassismus materielle Bedingungen hat, er eine eigenständige ideologische Formation ist – sonst hätten wir nicht so viele durchaus gut situierte Menschen, die trotzdem rassistisch sind.

Wenn wir nun sagen, dass Rassismus sich nicht automatisch aus sozialer Deklassierung ableitet, müssen wir anders erklären, wie es zu den Wahlerfolgen der Rechten kam.
Empirische Studien zeigen, dass es in der Bevölkerung einen stetigen Anteil mit rassistischen und menschenfeindlichen Einstellungen gibt – und zwar in Ost und West. Es ist nicht ganz plötzlich ein neuer Rassismus aufgepoppt. Die Frage ist vielmehr, welche Einstellungen wahlentscheidend werden, besonders wenn diese nicht mehr durch die etablierten Parteien abgedeckt werden. Für Deutschland hat die Auseinandersetzung über

die kurzzeitige Öffnung der Grenzen 2015 definitiv eine zentrale Rolle gespielt und mit dazu geführt, dass diejenigen, die auch vorher gegen offene Grenzen waren, nun eine konkrete Alternative zu Merkels Flüchtlingspolitik gesucht und gefunden haben. Interessant ist, dass auf die kurzzeitige Grenzöffnung ja die radikalsten Asylrechtsverschärfungen der letzten Jahre folgten, vom Türkei-Deal ganz zu schweigen – doch Merkel gilt sonderbarer Weise immer noch als Flüchtlingskanzlerin.          

Also spielen ökonomische Fragen doch keine so große Rolle?
Ich bin die Letzte, die sagen würde, dass soziale und ökonomische Fragen keine Rolle spielen: Es ist historisch immer so gewesen, dass die herrschenden Klassen versucht haben, die Konfliktlinie zu verschieben, weg von der Klassenfrage hin zu nationalistischen Identifikationsangeboten. Und für soziale Ängste werden nicht…