Von Debora Antmann

Ich bin in der Differenz aufgewachsen. In vielen Differenzen. Als Kind einer sehr kleinen, aber meist sehr fetten*, „psychisch kranken“, alleinerziehenden, jüdischen Mutter in einem kleinen Dorf in Süddeutschland der 1990er-Jahre war ich der Inbegriff an Differenz. Mit meinen 1000 Schulwechseln und meiner schwierigen sozialen Situation nach dem Tod meiner Mutter wurde die Situation nicht besser. Die Neue, die Andere, die Seltsame … Für Kinder und Jugendliche ist Identität immer ein schwieriges Thema, aber ständig aus Kontexten raus und in neue Umgebungen reingeschmissen zu werden, machte Selbstbewusstsein – sich seiner Selbst bewusst sein – nicht leichter. Und dann war da noch dieses Jüdischsein …
In der Schule für eine*n Shoah-Expert*in gehalten werden: die Realität vieler deutscher Jüdinnen_Juden © Tine Fetz
In dem Örtchen bei Karlsruhe war ich ausschließlich mit weißen christlichen oder zumindest christlich sozialisierten Kindern in einer Klasse. Die Frage nach „Ausländern“ stellte sich nicht, weil es quasi keine in unserem Umfeld gab. Aber mit mir stimmte eindeutig etwas nicht: Bis heute ist in Karlsruhe Religionsunterricht Pflicht. Entweder evangelisch oder katholisch. Die Alternative ist auf dem Flur sitzen. Bis heute, wie ich kürzlich erfahren habe. Ich saß also zwei Stunden die Woche alleine auf dem Flur und erlebte, wie Kinder sich über mich lustig machten, wenn sie auf dem Weg zur Toilette waren oder nach der Stunde an mir vorbeikamen. Die Thesen, dass ich geschwänzt oder was ausgefressen hatte, waren noch die weniger schlimmen.
Als ich dann mit neun nach Berlin zog, gab es plötzlich Begriffe für das, was die Kinder in Karlsruhe schon vermutet hatten: Ich bin keine von ihnen. In Berlin bedeutete das „Ausländerin“. Ich wurde ständig gefragt, wo ich herkomme. Die häufigsten Schätzungen waren Türkei oder „Arabien“ (ähhhh …). Anfänglich war ich noch ganz klar: Ich bin Deutsche! „Woher kommen deine Eltern?“ „Deine Großeltern?“ Es dauerte nicht lange und ich wurde selbst stutzig … Ich fing an, auf die penetrante Fragerei mit „Ich bin Jüdin“ zu antworten. Als Kind war es für mich das Einzige, von dem ich wusste, dass es anders an mir war. Und die Antwort schien zu passen. „Ahhhh! ISRAEL!“ Ich wusste, dass ich Verwandte in Israel hatte. War ich also gar keine Deutsche? Ich war verwirrt. Aber die Fragerei, das Wissen, dass ich Jüdin bin, die Resonanz, dass mich das weniger deutsch machte, der Umstand, dass die wenige Verwandtschaft, die ich noch hatte, zum größten Teil in Israel lebte, verunsicherten mich dermaßen, dass sich das „Fremdsein“ in mich einnistete und ich viele Jahre meiner Kindheit und meine gesamte Jugend über das Gefühl hatte, ich sei (irgendwie) „Ausländerin“. Beziehungsweise ich es mit den Reaktionen auf mich und was ich bin annehmen musste, obwohl ich gleichzeitig ahnte, dass auch das nicht ganz stimmen konnte.
Ich kam nach Berlin und dachte, ich sei Deutsche. Schon allein, dass ich es „dachte“ und nicht „wusste“, lässt tief blicken. Zeigt, wie tief die Spuren waren, die das Othering in einer normativen christlich-deutschen Gesellschaft in meiner jüdischen Kinderseele hinterlassen hat. Ich gehörte hier nicht hin. Das war nicht mein Land. Aber Israel?! Da war ich mit sechs das letzte Mal gewesen. Ich verstand die Sprache nicht, kannte mich dort nicht aus. Da sollte ich hingehören? Ich kannte den Unterschied zwischen Jüdisch- und Israelisein nicht. Und die meisten nicht jüdischen Leute offensichtlich auch nicht … Ich war fast schon erwachsen, als ich ein Gefühl dafür bekam, was es mit all dem Chaos, das (vor allem erwachsene) wc-Deutsche in mir hinterlassen haben, auf sich hatte. Es hat geholfen, die Geschichte meiner Familie zu lesen und zu verstehen. Auch jene Verwandte in Israel waren mal Deutsche.
Ich begriff früh, dass von mir erwartet wurde, Expertin für den Nationalsozialismus und die Shoah zu sein. Denn Lehrer*innen wurden nicht müde zu betonen, dass es MEINE Geschichte war. Nicht die meiner wc-deutschen Mitschüler*innen, sondern ausschließlich MEINE. Aber es brauchte lange um zu begreifen, dass ich DESWEGEN Verwandtschaft in Israel hatte. Dass ich aber trotzdem Deutsche bin. Dass sie „Deutsche“** sind/waren. Dass der Nationalsozialismus nicht meine Geschichte ist, aber das Leid, der Tod und das Trauma unsere Geschichte(n) unwiderruflich beeinflusst und sogar oft bestimmt. Dass mein Jüdischsein keine Ethnie (sic!) und keine Nationalität ist. Noch länger um zu verstehen,  dass es nicht mal eine Religion, sondern viel mehr und viel weitreichender ist. Dass es mein Deutschsein komplex macht und widersprüchlich. Aber dass ich hier hingehöre, wenn ich das möchte. Und dass Nationalismus eh immer scheiße ist.
Vieles von dem, was ich erlebt habe, erinnert an die Erfahrungen, die Kinder mit Rassismuserfahrung machen. Denn die Botschaft an mich als Kind und Jugendliche war klar und furchtbar: Du bist anders, du bist fremd und das bedeutet „Ausländerin „. Und ich habe sie geglaubt, diese Botschaften, habe sie verinnerlicht und ich wusste, habe es gespürt, dass sie und ihre Konsequenzen nichts Gutes sind, bedrohlich und sehr gefährlich. Heute habe ich einen entscheidenden Begriff dafür: Antisemitismus. Und einen Begriff für mich: Jüdin. Deutsche Jüdin, wenn es darauf ankommt.
* fett als politischer Begriff, nicht als Abwertung
** Sie nennen sich selbst  nicht (mehr) Deutsche. Für sie bin auch ich keine Deutsche. Für sie waren und sind die Deutschen jene, die so viele von uns ermordet haben. Wir sind Jüdinnen und Juden. Aus ihrer Perspektive nachvollziehbar.