Von Sibel Schick

„Happiness is for weak people. This is about survival.“
                                 – die Mutter von Rebecca Bunch

 

Diese Woche hat mich ein Geist aus meiner Vergangenheit besucht. Die Befreiung, die ich erwartet habe, hat er mir nicht geben können.

Ich war Anfang zwanzig, als ich mich in einen jungen Mann verliebt habe. Er war ein paar Jahre älter als ich, ein Physikstudent aus Istanbul, ein Gitarrist. Er hatte lange, dunkelblonde Haare. Wir waren ein Jahr zusammen.

Illustration: Tine Fetz

Dieser Mann hatte eine Tendenz zur Gewalt. Er hat mich nie geschlagen, aber wenn ich jetzt auf die Beziehung zurückblicke, sehe ich, dass ich ständig Angst vor ihm hatte. Wie klein ich mich fühlte. Machtlos, bevormundet. Seine Gewalt war subtil, sie war emotional. Er redete ständig meine Fähigkeiten, meine Erfolge, meine Emotionen und meine Freund*innenschaften klein. Er vermittelte mir jeden Tag das Gefühl, dass ich froh sein sollte, ihn zu haben, weil ich nichts Besseres verdiene. Und die Kontrolle. Er wusste immer Bescheid. Von jedem Schritt. Er hatte jedes Passwort. Überzeugt von meiner Wertlosigkeit machte ich mit.

Während ich das aufschreibe, schäme ich mich. Als würde diese Erinnerung für immer und ewig auf mir kleben, wenn ich es aufschreibe. Als würde ich sie hiermit selber verewigen, als würde mich diese Erfahrung definieren, sobald ich sie aufschreibe. Sichtbar wie eine Tätowierung auf meinem Gesicht für alle, die das hier lesen. Ich habe Angst, dass wenn mich jemand ansieht und an diese Geschichte denkt, dass mein Ich nicht mehr durchkommt. Als würde es verschwinden, wenn ich es lang genug verschweige, wenn ich es einfach für mich behalte. Es ist so lange her. Über zehn Jahre. Ich habe immer noch Angst vor dieser Erinnerung.

Diese Woche bekam ich eine Nachricht von diesem Mann auf Facebook. Plötzlich. Sofort spürte ich einen Druck auf meinem Brustkorb. Es war eine Antwort auf eine Nachricht von mir aus 2015. Kurz vor meinem 30. Geburtstag, also lange nach der Trennung, hatte ich einen Blogbeitrag veröffentlicht, mit dem ich meine Erfahrungen in dieser Beziehung versucht hatte zu verarbeiten. Etwa so wie jetzt. Nach der Veröffentlichung habe ich ihm wohl den Link geschickt, der in seinem „Sonstiges“-Ordner gelandet ist, weil wir keine gemeinsamen Freund*innen haben. Ich hatte völlig vergessen, dass ich ihn damals anschrieb. Er bekam die Nachricht erst diese Woche, konnte den Link nicht mehr öffnen, weil der Bloganbieter inzwischen weg ist. Er bat mich, ihm den Text noch mal zu schicken. Ich wusste nicht mehr, was ich genau geschrieben hatte, fand den Text in meinem Archiv und las nach.

Beim Lesen wurde mir klar: Dass ich ihm vor drei Jahren den Link gesendet habe, war ein Versuch meinerseits, ihn zum Nachdenken zu bringen, damit er reflektiert und versteht, was er mir angetan hat, wie er mich traumatisiert hat. Ich wollte, dass er sich entschuldigt. Damals, als ich es noch gebraucht habe. Innerhalb der letzten drei Jahre hat sich aber viel in mir geändert. „Ich werde dir den Link nicht noch mal senden, weil das mein Ego war, das eine Entschuldigung von dir erwartet hat. Aber inzwischen brauche ich keine mehr“, schrieb ich ihm.

Daraufhin ist etwas passiert, mit dem ich nicht gerechnet hätte: Er hat sich entschuldigt. Und ich wollte ausrasten. Einfach ausrasten. Ich bin nie ausgerastet. Vielleicht, wenn ich jetzt schreie und mich am Boden rolle, wird mein Brustkorb leichter. Wenn ich weine, ist das alles vielleicht wieder weg. Vielleicht fühle ich dann etwas. Überhaupt irgendwas. Aber ich saß da mit dem Laptop vor mir, starrte auf den Bildschirm und fühlte absolut nichts. Als wäre ich betäubt. Ich bin nicht ausgerastet. Mein Brustkorb wurde nicht leichter. Seine Entschuldigung hat mich nicht befreit.

Viele von uns machen Gewalterfahrungen, manchmal emotional, manchmal auch körperlich. Die Wunden können sich zu Narben entwickeln, manche heilen nie. Die trägt man für immer mit sich herum. Eine Auseinandersetzung mit den Täter*innen ist nicht ein für alle geltendes Rezept. Ich dachte immer, dass meine Narbe verschwinden würde, wenn ich ihn konfrontiere. Aber ich glaube, manchmal ist es besser, den Umgang mit der Vergangenheit zu lernen. Für sich. Herauszufinden, wie man sich selber um sich kümmert, sich selber regeneriert. Die Befreiung kann unter Umständen auch von innen kommen.

Manche Sachen kann man nämlich einfach nicht verzeihen. Manchen Menschen kann man nicht verzeihen. Die Erwartung einer Befreiung durch Täter*innen kann einem Menschen aber im Weg stehen, glücklich zu werden, zumindest war das bei mir der Fall. Auch in der Erwartung, verstanden zu werden, steckt der Wunsch nach der Anerkennung der Täter*innen. Das eigene Glück darf aber nicht auf die Absegnung derer ankommen, die uns an erster Stelle unglücklich machten. Ihnen einen solchen Anspruch zu stellen, dass sie dafür sorgen, dass es uns gut geht, ist ein verlorener Streit. Es ist so, als würden wir mit denen, die uns verletzt haben, um Glück handeln. Oder wird eher um Gerechtigkeit gehandelt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls weiß ich, dass es für mich nicht auf meinen Exfreund ankommen sollte, ob ich jemals wieder glücklich werden kann. Inzwischen weiß ich, dass das eine Falle ist.

Er hat sich entschuldigt, ich habe mich bei ihm bedankt und habe nichts mehr geschrieben. Der Geist ist jetzt weggezogen, aber die Erinnerung ist da. Die Erfahrung ist noch immer da. Die Narbe ist da. Ich muss jetzt lernen, wie ich damit umgehe.