Von Margarita Tsomou

Aus Protest gegen genmanipulierte Landwirtschaft filmt sich der*ie Protagonist*in Sebastian*e bei einer aktivistischen Performance, in der er*sie sich mit homoerotischem ironisch-ernsten Blick einen Maiskolben in den Arsch steckt. In dieser Anfangsszene des Roadmovies durch den Amazonas, „The Whisper Of The Jaguar“, kündigt sich die Verschränkung queerer, ökologischer und postkolonialer Themenfelder an, die eingebettet in Humor, Drag-Performativität, Punk-Attitude und poetischen Landschaftsaufnahmen den gesamten Film prägen.

© Giovanna Pezzo

Sebastian*e stirbt in der oben beschriebenen Szene auf der Flucht vor bewaffneten Maisbauern. Nach seinem Tod versucht seine Schwester Anna, seine Reise durch den Amazonas-Regenwald zu rekonstruieren, auf der Suche nach einem Ort, um seine Asche in den Wind zu streuen. Dabei begegnet sie Neo-Hippies und Schamanen, probiert bewusstseinserweiternde Pflanzen und nimmt an Ritualen teil, findet Arbeit in touristischen Souvenirläden und verirrt sich im dichten Dschungel, um schließlich in Ehrfurcht vor seinen Pflanzen und Tieren einen Umgang mit der menschlichen Vergänglichkeit zu finden.

Doch in diesem Roadtrip-Panorama ist nur wenig von einem Jaguar zu sehen. Es ist eher, als ob durch seine Abwesenheit angemahnt wird, dass die einst in indigenen Kulturen verehrte Raubkatze des Regenwalds wieder gehört werden müsste.

Der gesamte Film ist durchzogen von einer Suche nach An- und Abwesenheiten: Die Suche der Protagonistin Anna nach den Spuren ihres*r Bruders*Schwester Sebastian*e wird zu einer Suche nach einer Neukonstruktion lateinamerikanischer Identität zwischen autoritären Regimeübernahmen und feministischem Aufbegehren, zwischen der brutalen Zerstörung natürlicher Ressourcen, indigenem Erbe und westlich geprägter Jugend. Davon habe ich als Griechin in Deutschland natürlich wenig Ahnung. Aber die Suche der Regisseur*innen Thais Guisasola (Brasilien) und Simon(e) Jaikiriuma Paetau (Kolumbien/Deutschland) nach der Frage, – wie sie es ausdrücken – „wie wir uns mit unseren queeren und indigenen Vorfahren verbinden, wie wir ihr Erbe des Widerstands und des Akts des Neudenkens von Gesellschaft antreten“, machte mir Hoffnung, dass ich durch ihre erlebten Perspektiven meine eurozentristisch-provinzielle Naivität und Ignoranz in Sachen Lateinamerika ein Stück weit ablegen könnte. So stieg ich als Dramaturgin in die Produktion ein.

© Giovanna Pezzo

Als ich dazustieß, begann der Schnitt. Das Footage war das, was mich am Projekt überzeugt hatte: die fulminante Schönheit der brasilianischen Landschaft neben Ayahuasca-Zeremonien, Hippies im Interview, queerem kollektiven Sex, verlassenen Gebäuden und Delfinen, Schmetterlingen, majestätischen Störchen, Papageien – das alles musste jetzt in eine Narration zusammengebunden werden. Denn der Filmdreh gab die Dramaturgie nicht vor: Thais und Simon(e) hatten ein loses Skript, mit dem sie ihre Reise in den Regenwald angetreten sind. Ähnlich wie bei der Filmfigur Anna war es auch für sie der erste Trip durch den Amazonas. Mit dokumentarischer Neugier ließen sie sich dabei auf Situationen, Personen, Bilder oder auch medizinische Drogenpflanzen ein, denen sie begegneten, filmten aus dem sozialen und lokalen Umfeld spontan generierte Ideen und fädelten ihre eigenen Erfahrungen in die Dreharbeiten ein. Herausgekommen ist ein Film, der mit dokumentarischer Ästhetik arbeitet, dabei jedoch die eingefangenen Realfragmete poetisch fiktionalisiert und mit gestageten Instant-Queer-Performances und geskripteten Szenen kombiniert.

So ist der Film gewissermaßen Ergebnis eines Selbstversuchs: Was passiert, wenn queere transkulturelle Großstädter*innen in den Amazon gehen, um nach dem Erbe von verloren gegangenem indigenen Wissen zu suchen? Inwiefern kann ein Zugang dazu gefunden und freigelegt werden? Der Film stellt immer wieder die schwierige Balance zwischen Kitschvorstellungen, Mythosverklärung und kommerzieller Aneignung aus, in der sich die jetzige Generation querer Kosmopolit*innen bei dem Versuch befindet, sich der vorkolonialen Vergangenheit zu nähren.

Die Queerness der Charaktere ist dabei kein Hindernis, sondern vielleicht sogar Schlüssel, um sich mit dem Verschütteten und Marginalen im Regenwald zu verbinden: Sebastian*e ist nicht-binär und Ökoaktivist*in, Anna wird später eine lesbische Orgie feiern und mit jedem Orgasmus dem patriarchal-kolonialen Erbe Brasiliens trotzen. Aber anders als bei den meisten Filmen mit queeren Protagonist*innen und Macher*innen problematisiert der Film nicht sexuelle Benachteiligung oder private Identitätsfindung. Vielmehr wird eine queere Haltung angelegt, mit der die Gegenwart des Regenwalds beobachtet und gelesen wird. Queer, sagen Thais und Simon(e), ist im Film eher „eine Methodologie, ein kinematografischer Blick, der mit den dominanten heteronormativen Narrativen und linearen Konstruktionen des etablierten Kinos bricht“.

Tatsächlich ist Linearität in diesem Film eher leiser Vorschlag als Programm. Die dokumentarisch anmutenden Roadmovie-Bilder werden ständig von Traumsequenzen, Flashbacks oder auch auf Drogen gemachten Visionen unterbrochen, in denen der*ie Bruder*Schwester tanzt oder performt. Es ist, als ob der*ie Bruder*Schwester immer mitläuft oder als ob Anna ihn entlang seiner Spuren immer wieder als unsichtbaren Geist treffen würde – genau wie das indigene Erbe, das diesen Orten anhaftet, aber gleichzeitig nicht so einfach im Wald zu finden und einzufangen ist.

Denn immer klarer wird im Lauf des Films, dass Anna in ihrer Suche unzufrieden bleiben wird. Die Suche nach dem Ort, um die Asche zu verstreuen, ist vergeblich – genauso vergeblich wie die Suche nach dem authentischen Zurück in eine Welt vor dem Kolonialismus und der industriellen Agrarwirtschaft. Der Bruch mit der Illusion, dass ein einfacher Hippie-Naturtrip ausreicht, um Zugang zum Wissen des Amazonas-Regenwalds zu erlangen, drückt sich immer wieder in den Filmsequenzen selbst aus: Mitten im Dschungel begegnen Anna italienische Pizzerias oder Sushi-Restaurants, sie muss Eintritt bezahlen, um in einen privaten Wasserfall zu gehen, und sie kauft standardisierten Hippie-Schmuck, um ihn auf der Straße als authentisch selbstgemacht zu verkaufen. Auf eine Art wird Anna so Teil der touristischen Aneignung und Verkitschung des Regenwalds, und gleichzeitig verliert sie die verklärende Illusion einer puren unberührten Natur und ihren Einwohner*innen.

Diese ironisch immer wieder durch die Bilder mitgelieferte These war für mich von Beginn an die wichtigste in diesem Film: Ein Zurück zur Natur wird es nicht geben, wir müssen eine Neuannäherung versuchen. Und ich verstand auch, dass es kein Zufall ist, dass junge queere Menschen, wie Simon(e) und Thais mit einem transkulturellen Hintergrund im Globalen Süden und der westlichen Welt so einen Film machen müssen. Stets versucht der Film, Authentizitätsgesten, Exotisierung und Mystifizierung zu umgehen: So sind in dem Film auch keine indigenen Communitys zu sehen, um nicht den klassischen anthropologischen und damit kolonialen Blick der üblichen Filme über das Leben in der Natur des Globalen Südens zu wiederholen. Stattdessen nähren sie sich dem Gegenstand nicht als Kultur der „Anderen“, sondern als ihr eigenes Erbe. Ein Erbe, das alle Lateinamerikaner*innen teilen, aber das bis heute nicht in die offizielle kollektive Geschichtsschreibung der Mehrheitsgesellschaften aufgenommen wurde. Der Film zeigt den Versuch, diese Lücke im Wissen über ihre Ahnen zu füllen, dabei werden wir aber weder belehrt, noch resigniert zurückgelassen.

Aus der Erhabenheit des Regewalds lernt Anna Bescheidenheit: „Kill the Ego“ ist eine der Losungen, die uns zugeflüstert wird. Gegen Ende des Films oszilliert der*ie Bruder*Schwester als eine Art futuristischer Cyborg mit einem Jaguar. Der Jaguar fungiert somit nicht als konkrete Figur, sondern wird in seiner Bedeutung für indigene spirituelle Technologien in ganz Lateinamerika aufgerufen: Schamanen gelten als Jaguarwesen, in Trancezuständen haben sie Visionen von Jaguaren. Thais und Simon(e) erklärten mir, dass sie dabei von der kolumbianischen trans Frau und Biologin Brigitte Baptiste inspiriert waren, die die spirituelle Bedeutung des Jaguars mit seiner biologischen zusammendenkt: Der Jaguar ist im Amazonas das Tier, dass diejenigen Arten frisst, die sich zu viel vermehren, und sorgt damit für die Balance in der Biosphäre des Regenwalds. Äquivalent könnten Shamanen und das Wissen der Indigenen uns helfen, unser unersättliches und ausbeuterisches Ego einzudämmen, uns bescheidener zu machen und uns beizubringen, mit der Natur und dem Tod umzugehen. Demnach könnte eine Art sein, sein Flüstern zu verstehen. Als eine Mahnung, die nicht mehr gehört wird, eine Mahnung, die heute nach dem Wahlsieg des Militärs und Faschisten Jair Bolsonaro in Brasilien traurigerweise aktueller ist denn je: Bolsonaro verspricht die ohnehin wenigen Schutzrichtlinien gegen die Abholzung des Regenwalds aufzuheben und das „land-grabbing“ von indigenen Communitys noch aggressiver voranzutreiben. So bin ich froh, dass unser Film Mitte November beim MIX BRASIL LGBT FILM Festival in São Paolo gezeigt werden wird – als poetische Ode auf all das, was vor Ausrottung gefährdet ist, komponiert „The Whisper Of The Jaguar“ eine berührende Bilderflut als Gegenpunkt gegen den brasilianischen Faschismus.

The Whisper Of The Jaguar
Deutschland/Kolumbien/Brasilien 2017, 80 Minuten
Regie, Drehbuch, Produktion: Thais Guisasola, Simon(e) Jaikiriuma Paetau, Kamera: Giovanna Pezzo, Szenenbild und Kostüm : Alicia Estrella, Schnitt: Ilka Miriam Valdés, Sounddesign: Ruben Valdés, Dramaturgie: Laura Paetau, Margarita Tsomou, Associate Producers: Lillit, Drama Filmes, Martin Backhaus

Nächste Aufführungstermine:
02. November // Casablanca Nürnberg
07. November // Kino Latino Köln*
14. November // Frindge! Queer Film Fest London // Uk*
17. November // Pink Screens Brüssel // Belgien
19. November // MIX BRASIL LGBT FILM Festival São Paulo // Brasilien*
01. December // TransFormations – Trans* Film Festival Berlin*
07. December // Queer and Migrant Film Festival Amsterdam // Niederlande
* in Anwesenheit von mindestes eine(r) der Filmemacher*innen