Interview: Sonja Eismann

Wann habt ihr festgestellt, dass ihr Feministinnen seid – falls ihr diesen Begriff für euch passend findet?
Rachida Aziz: Für mich gab es keinen einzelnen Moment. Wie alle von uns bin ich in eine patriarchale Gesellschaft geboren, in der schon bei der Geburt, wenn du eine Vagina hast, alle schreien: „Es ist ein Mädchen!“ Vielleicht war das der Moment, der mich zur Feministin gemacht hat. Auf jeden Fall habe ich früh angefangen, den mir von der Gesellschaft zugewiesenen Platz zu hinterfragen und zu bekämpfen. Aber schon als Kind habe ich mich in diesem Kampf isoliert gefühlt und bald aufgegeben. Eine Weile habe ich versucht, alle Erwartungen an mich zu erfüllen, aber das hat einfach nicht funktioniert. Denn es stellte sich mir schnell die Frage: „Warum existiere ich, wenn ich nicht selbst definieren kann, wer ich bin?“

Sonja Eismann, Amahl Khouri, Rachida Aziz und Salma El Tarzi (v.l.n.r.) ©Caroline Lessire

Und war Feminismus für dich der passende Begriff?
Rachida: Er ist bei mir mit einem Fragezeichen versehen, denn die Bewegung begann ja als eine für gleiche Rechte – aber eben innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft. In einer solchen gibt es aber keine Gleichheit. Mir geht es um die Dekonstruktion des Patriarchats und darum, eine Alternative anzubieten.

Was wäre diese Alternative?
Rachida: Das weiß ich nicht. Manche nennen sie Revolutionäres Matriarchat, wobei das Matriarchat oft als umgekehrtes Patriarchat verstanden wird, was es nicht ist. Denn das Revolutionäre Matriarchat würde eine Post-Gender-, Post-Race- und postkapitalistische Gesellschaft hervorbringen. Feminismus deckt das meiner Meinung nach nicht ab, aber es ist an uns allen, über andere Namen nachzudenken.
Amahl Khouri: Für mich ist es ganz ähnlich wie für Rachida. Ich wuchs in Jordanien auf, wo ich von Anfang an eine riesige Diskrepanz zwischen dem, was Mädchen, und dem, was Jungs erlaubt war, erlebt habe. Schon als ich noch ganz klein war, brachte meine Tante mir bei, mich zu schämen.

Was war das Schamhafte?
Amahl: Der weibliche Körper an sich. Sie schimpfte einmal mit mir, weil ich mich in der Badewanne selbst berührte. Von da an wusste ich, dass es nicht einfach werden würde. Schon früh merkte ich, dass Männer und Frauen sehr unterschiedlich behandelt wurden. Wenn wir ein großes Fest feierten, waren die Frauen in der Küche und bereiteten das Essen vor, das sie dann den Männern servierten. Erst danach durften die Frauen essen.  

Welche Rolle spielte Feminismus in deinem Coming-of-Age?
Amahl: Für mich war es ein Prozess. Als ich mehr und mehr meine eigene Geschlechtsidentität entdeckte, fühlte ich mich immer stärker trans, was auch mit Schuldgefühlen verbunden war. Nach meinem Umzug in den Westen habe ich den Feminismus nach und nach entdeckt. Als ich aufwuchs, hatte ich eine bestimmte Vorstellung davon, und als ich dann in den Westen kam, merkte ich, was für eine Rolle „Race“ und Klasse hier auch noch darin spielen. Ich musste zudem erst Raum für meine eigene trans Identität darin schaffen, denn lange Jahre war ich davon ausgegangen, dass es diesen Raum nicht gibt. Ich finde immer noch täglich heraus, was Feminismus für mich bedeutet.
Salma El Tarzi: Ich bin in einem sehr progressiven Haushalt aufgewachsen. Die Frauen um mich herum, ob meine Mutter oder meine beiden Großmütter, waren sehr starke Figuren. Feministische Praktiken waren daher immer präsent, ohne so benannt oder als solche reflektiert zu werden. Es gab jedoch eine Diskrepanz zwischen dem, was ich zu Hause lebte, und dem, was außerhalb davon üblich war. Das merkte ich besonders deutlich, als ich anfing, Beziehungen zu haben, Slutshaming erlebte, mitbekam, wie in Beziehungen Macht ausgeübt wird, wie mit Sexualität umgegangen wird … Ich kämpfte mich instinktiv da durch, weil ich aus einer Familie von Kämpferinnen komme.

Gab es einen Wendepunkt, wo dein Feminismus expliziter wurde?
Salma: Ja, die Arabische Revolution. Bis dahin hatte ich eine große Menge patriarchaler Vorstellungen bezüglich Liebe, Sex und Begehren internalisiert. Doch dann kamen die massenhaften sexuellen Übergriffe. Diese Utopie, dass wir als Genoss*innen gemeinsam für Freiheit kämpfen, platzte, als ich feststellen musste, dass man Schulter an Schulter für die gerechte Sache kämpfen kann, und in der nächsten Minute steckt dir der Genosse die Hand in die Unterhose. Und das nur, weil ich eine Frau bin und er ein Mann.
Amahl: Was veränderte sich dadurch für dich?
Salma: Mir wurde schlagartig klar, dass ich vorher einfach ausgeblendet hatte, wie tief verwurzelt Misogynie ist. Ich hatte wohl immer akzeptiert, dass sie ein Teil des Lebens ist. Zu Beginn der Revolution waren wir daher auch alle felsenfest davon überzeugt, dass wir nicht als Frauen oder Feministinnen an der Revolution teilnehmen wollten, sondern als Bürgerinnen oder Revolutionärinnen. Doch diese Blase platzte mit einem lauten Knall. Das führte dazu, dass ich hinterfragen musste, was das Frausein in dieser Welt bedeutet.

Waren die Angreifer nicht Unterstützer des Regimes?
Salma: Das ist streitbar. Die einfache Antwort ist die, dass sie vom Regime geschickt wurden, um die Revolution zu destabilisieren. Aber selbst wenn 100 Leute geschickt wurden, gibt es immer noch die 1000 anderen, die mitmachten, und dann 10.000, die die angegriffenen Frauen beschimpft und beschuldigt haben. Und dann gibt es die Genossen, die uns sagten, wir sollten den Mund halten, damit wir die Revolution nicht beschmutzen. Rachida: Das Gleiche ist in den 1970ern hier in Europa passiert. Damals hatten Frauen noch nicht die Möglichkeit sich zu organisieren, die Stimme zu erheben, weil all das noch so neu war … Aber das war auch der Moment, in dem die Frauenbewegung stärker wurde, nachdem die 1968er-Revolution stattgefunden hatte. Sie hatten alle diese progressiven Ansichten, aber es gab eine große Versammlung, bei der eine Frau aufs Podium gehen wollte und Männer aus dem Publikum brüllten, was eine Frau da auf dem Podium mache, die Schlampe solle verschwinden. Das kann man sich noch auf YouTube anschauen, ich glaube, das war in Frankreich.
Salma: Es ist alles so offensichtlich. Wann immer Frauen sich selbst organisieren wollen, heißt es, nein, das ist nicht der richtige Moment, es gilt jetzt, für eine größere Sache zu kämpfen. Ich glaube, eines der Probleme ist, wie wir Revolutionen sehen. Es gibt die Vorstellung, dass Revolutionäre die Guten sind und der Staat das Böse. Aber auch Revolutionäre sind Männer, die in einer patriarchalen Gesellschaft aufgewachsen sind. Du kannst ein Revolutionär und ein Vergewaltiger sein. Man kann viele Dinge gleichzeitig sein, es passt nicht immer alles in eine Schublade, und solange wir diese Komplexitäten ausblenden, werden wir nicht weiterkommen.
Rachida: Ähnlich war es ja mit dem #MeToo-Hashtag. Solange es um Weinstein und Co. geht, ist es klar, dass das die Täter sind. Aber wenn es näher an uns heranrückt, an unsere eigenen aktivistischen Zirkel, wird es komplizierter. In meiner Community gab es einen Fall, wo ein Schwarzer Mann als Aggressor identifiziert wurde, und dann kam schnell die Frage auf, wie damit umzugehen sei, denn er könnte dadurch seinen Job verlieren, abgeschoben werden … Sollen wir also den Täter schützen, und können wir gleichzeitig als Opfer gehört werden? Dieser Kampf ist universell, denn unsere Gesellschaft macht es uns sehr schwer: Wenn wir unsere Brüder outen, werden ihre Taten automatisch ethnisiert und kulturalisiert.
Salma: Genau, oft wird die Komplexität und Intersektionalität der Dinge nicht gesehen. Ich würde gerne die ganze #MeToo-Kampagne problematisieren, denn sie gaukelt die unrealistische Idee vor, wir würden alle denselben Kampf kämpfen. Das stimmt nicht, und die Aufmerksamkeit für die Fälle wird auch sehr selektiv vergeben. Nicht thematisiert wird das ganze System aus Race, Klasse und Ungleichheit, das Vergewaltigungsopfer aus Minderheiten-Communitys doppelt oder dreifach unter Druck setzt. Sie müssen nicht nur mit dem ihnen zugefügten Verbrechen fertigwerden, sondern sich auch noch die Frage stellen, wie sie den Täter schützen können, weil er aufgrund von Rassifizierung ohnehin schon kriminalisiert wird.

©Caroline Lessire

Ihr habt ja wahrscheinlich auch von den Silvestervorfällen in Köln gehört und wie sie von Rassist*innen instrumentalisiert wurden. Gibt es feministische Strategien, sich  dem entgegenzustellen?
Rachida: Ich habe in meinem Buch darüber geschrieben, denn es war kein Vorfall, sondern nur eine Möglichkeit des Weißseins zurückzuschlagen. Weißsein ist schon zutiefst angeschlagen und wird fallen, so wie das Patriarchat.
Amahl: Wann nur, wann? 
Rachida: Sie schlagen so hart zurück, weil sie merken, dass ihre Zeit vorbei ist. Alles, was wir jetzt erleben, ist ein Backlash gegen unseren Siegeszug. Und die Sache ist, denn wir haben natürlich Recherchen dazu angestellt, dass es kein Vorfall war. Nicht, wenn man es in einem Kontext von Rape Culture sieht, denn dann war es nur eine Anekdote. Im selben Jahr gab es ein Festival, bei dem es viel mehr Opfer gab, Opfer von weißen Vergewaltigern.

Amahl: Ich lebe in München, wo das Oktoberfest ja so etwas wie eine riesige Frat Party ist. So viele Frauen im Dienstleistungsbereich oder auch einfach nur Besucherinnen werden dort belästigt. Rachida: Für mich ist es problematisch, dass diese Frage gestellt wird. Wir werden mit dieser Nicht-Geschichte jedes Mal von weißen Personen von weißen Magazinen konfrontiert, wenn wir über uns selbst reden wollen. Warum bringst du diese Anekdote hier und jetzt auf, wo du doch weißt, dass es nur eine Anekdote ist?          

Mir ging es um die Problematik, dass sich die extreme Rechte die feministische Argumentation, dass jedes Opfer von sexualisierter Gewalt gehört werden müsse, zu eigen macht, um sie rassistisch zu instrumentalisieren. Meine Frage war die nach gemeinsamen Strategien.
Amahl: Ich arbeite an deutschen Theatern und die Prozentzahl von dort inszenierenden Frauen ist so gering, was sagen die extremen Rechten dazu?        

Nichts, denn die meisten von ihnen interessieren sich nicht oder nur negativ für Kultur­betrieb und Gender.
Salma: Was jetzt gerade passiert ist, ist genau das, worüber ich vorhin gesprochen habe. Wir sitzen hier als drei Feministinnen und auf einmal werden wir in eine Situation gebracht, in der wir diese Männer verteidigen sollen. Das ist wirklich sehr ermüdend, weil es unsere Energie und Agency schmälert, diese Kämpfe zu führen und zu lösen. Wir sollen Strategien finden, die Rechten zu überzeugen, und das interessiert mich nicht.


In Deutschland gibt es von linksliberalen Zirkeln immer wieder den Wunsch, dass mit Rechten geredet werden solle. Ich bin dagegen, denn was will man damit erreichen?
Rachida: Wir sollten nicht mit ihnen reden, wir sollten sie bekämpfen.
Amahl: Was schlägst du für einen Ansatz vor? Ich habe Freund*innen, die Infos über diese große #unteilbar-Demo in Berlin auf Facebook gepostet haben. Mir kommt das alles so isoliert vor. Nikita Dhawan hat gestern bei ihrer Keynote auf dem Tashweesh-Festival über die Kommodifizierung von Protest gesprochen, daran musste ich denken.
Salma: Das Wort, das mir dabei in den Sinn kam, war Riot Porn. Als würde dieser ganze Aktivismus, all diese Demos von einem Zustand, wo er wie die einzige Möglichkeit von Protest erscheint, direkt in eine Aneignung durch das kapitalistische System münden. Besonders, wenn es um etwas wie Feminismus geht, der jetzt ja so sexy geworden ist und in all diesen Serien vorkommt – und dann haben wir auch noch diese pinken Hütchen. Nikita Dhawan hat, wenn ich das richtig verstanden habe, betont, dass wir hier kritisch sein müssen, weil es wie ein Teufelskreis ist, bei dem sich die Macht an ihrer Kritik bereichert und dadurch noch mächtiger wird. Aktivistischer Protest als einzige Form des Widerstands wird somit Teil der Dynamik von Macht selbst.

Rachida Aziz ist die Gründerin von Le Space, einem Kultur­zentrum in Brüssel. 2017 veröffentlichte sie das Buch„Niemand zal hier slapen vannacht“ (Niemand soll hier
schlafen heute Nacht).

Salma El Tarzi ist eine Filmemacherin aus Kairo. Sie ist in der feministischen Gruppe OPANTISH – Operation Anti Sexual Harassment sowie Teil des Mosireen Video ­Collective.

Amahl Khouri ist ein*e jordanische*r queer und trans Dokumentartheatermacher*in. Sie*er lebt in München und ist Autor*in von Stücken wie „She He Me“.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/18.