Es ist ein Freitagmittag im Spätherbst. Mein Partner und ich sitzen bei einem der unzähligen Termine, die wir in diesen Monaten im Zusammenhang mit der Schwangerschaft haben. Genauer befinden wir uns in der Klinik, in der der neue Mensch das Licht der Welt – wahrscheinlicher aber eine Wand oder Krankenhauspersonal – erblicken wird. Bis zum errechneten Geburtstermin sind es nun kaum mehr fünf Wochen und die Betreuung der Schwangerschaft bzw. des*der Uterusbewohner*in findet nun wöchentlich statt: darunter Vorsorgetermine bei einer Gynäkologin und bei unserer Hebamme, ein zweitägiger Geburtsvorbereitungskurs – auf den ich keine Lust habe, weil ich lieber über einen Weihnachtsmarkt schlendern und Waffeln essen und Punsch trinken möchte – ein weiteres Gespräch auf der Geburtsstation der Klinik und ein paar Sitzungen mit unserer Doula. 

 

Bye bye, vergeudete Lebenszeit © Tine Fetz

Die Hebamme, bei der wir uns für die Geburt anmelden, hat ein freundliches offenes Lächeln. Sie erklärt uns etwas zu den Richtlinien, an die sich Krankenhäuser im Regelfall halten, und dass es Alternativen gibt, sollte ich für mich andere Wünsche haben. Während sie meine Akte anlegt, blättert sie durch meinen Mutterpass. Ihr Blick fällt auf eine Angabe, von der ich inzwischen wünschte, sie gar nicht gemacht zu haben: Auf Seite fünf steht unter der Überschrift „Anamnese und allgemeine Befunde/Erste Vorsorge“ eine Liste, auf der potenzielle Risiken und Belastungen schwangerer Personen abgefragt werden. Unter Punkt 2, „Frühere eigene schwere Erkrankungen (z. B. Herz, Lunge, Leber, Nieren, ZNS, Psyche)“ habe ich noch im Frühling unbedarft meine frühere Essstörung angegeben. Die Hebamme schaut vom Heft auf, lächelt mich erneut an und sagt etwas wie „die Esstörung macht Ihnen aber keine Probleme mehr?!“

Bis heute finde ich die meisten Reaktionen auf die Tatsache, dass ich essgestört war, unangemessen. Manchmal bin ich verwundert darüber, wie wenig Interesse für mich wichtige Personen zeigen, wenn ich ihnen davon erzähle – heute Jahre später. Andere Male sind es Reaktionen, wie „Das glaube ich nicht, du sahst gar nicht krank aus“ oder „Sind wir nicht alle ein bisschen essgestört?“, die ich lieber nicht gehört hätte. Wieder andere Male meinen Menschen, wenn ich ihnen jetzt davon erzähle, dass sie es gewusst hätten. Dabei schätzen sie ein für mich gesundes Essverhalten regelmäßig als gestört ein. Denn weil ich gerne Obst und Gemüse esse und Dinge, die allgemein als „gesund“ gelten, muss ich auch gegenwärtig psychisch krank sein. 

Josephine Apraku

ist nicht mehr ganz so neues Elternteil, macht Bildungsarbeit zu Diskriminierungskritik, schreibt Dinge und gründet gerade neu.

Meine Essstörung war – wie so vieles für mich in dieser Zeit unordentlich. EDNOS – Eating Disorder Not Otherwise Specified. Oft habe ich mich vollgestopft, ähnlich oft habe ich alles wieder ausgekotzt – unter der Dusche, weil das Wasser das Würgen so gut übertönt –, manchmal habe ich wenig gegessen, dann gar nichts, wahlweise habe ich Kalorien gezählt. Heute bin ich wieder mehr wie das Mädchen, das ich früher war. Ich esse gerne und viel. Meine heilige Dreifaltigkeit: Kartoffeln, Sauerteigbrot und Reis. Ich esse, was ich essen möchte, so viel ich essen möchte – intuitiv. Ich esse nicht auf, wenn ich keinen Hunger mehr habe, und esse nichts, wenn es mir nicht schmeckt, aus Höflichkeit oder weil ich dafür bezahlt habe. 

Noch immer bemerke ich die Unsicherheit der anderen im Umgang mit psychischen Krankheiten. Eine Unsicherheit, die mir bis heute emotionale Arbeit abverlangt, die ich nicht hatte leisten wollen und nicht leisten will. Also schweige ich.

Wenn ich heute erklären soll, warum ich essgestört war, dann sage ich, dass es aus meiner Sicht viel damit zu tun hat, dass meine Außenwelt mich oft als „falsch“ und „abweichend“ kategorisiert hat. Für ein Mädchen war ich zu groß, zu laut, zu eigensinnig, zu eloquent, zu kämpferisch, zu unangepasst – eigentlich einfach kein richtiges Mädchen, keine richtige junge Frau, keine richtige Frau. Falsch eben. Ich hätte anders sein sollen. Vor allem nicht Schwarz oder wenigstens Schwarz und dankbar, in Deutschland sein zu dürfen – ungeachtet der Tatsache, dass ich hier geboren bin. Das hat Spuren in mir hinterlassen.

Die steigende Zahl auf der Waage, die oft unweigerlich mit einer Schwangerschaft und dem wachsenden Bauch einhergeht, hätte zumindest theoretisch das Potenzial gehabt, mein Gehirn einmal mehr in die düstere Halbwelt der Essstörung zu reißen. Hat sie nicht. Ich habe viel und hart daran gearbeitet, meine Lebenszeit nie wieder derart vergeuden zu müssen und mich von selbstgefälligen Projektionen anderer frei zu machen. Was mir nicht geholfen hat, ist der Austausch mit Menschen, die zu sehr damit beschäftigt sind, im Umgang mit psychischen Krankheiten alles „richtig“ zu machen, und dabei nicht zu entblößen, dass Empathie Wissen nicht ersetzen kann. Für mich bedeutet dieser Eintrag im Mutterpass, dass ich von Fremden – wieder – auf einen Teil meiner Identität festgeschrieben werde und sie beruhigen muss, obwohl die Esstörung für mich gar nicht mehr relevant ist. Auch das ist mühsam. Auch das ist emotionale Arbeit.

Der Hebamme, die mich abwartend anschaut, entgegne ich auf ihre Frage: „Nein, damit habe ich keine Probleme mehr.“