Revolutionen sind ein bisschen aus der Mode gekommen – oder wer glaubt noch an plötzlichen, womöglich blutigen Umsturz? Und ist das häufig damit verbundene, traditionell männliche und wenig differenzfreudige Heldentum überhaupt so toll? Nicht nur Feministinnen haben da schon länger ihre Zweifel – etwa die Philosophin Eva von Redecker. Aber anstatt den Begriff (wie so viele es tun) zu verwerfen oder dezent zu vernachlässigen, stellt sie in ihrem Buch die Frage, ob Revolutionen nicht ganz anders gedacht werden können, ja vielleicht etwas ganz anderes sind, als gemeinhin angenommen.

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Um das zu begründen, sondiert von Redecker sozialtheoretische Theorien des Wandels und politischen Handelns und diskutiert diese an Beispielen aus Literatur und Kunst – z. B. Mary Wollstonecrafts Novelle „The Wrongs Of Women“ oder eine Videoinstallation über Act-Up-Aktivismus von Matt Ebert und Bryan Landry. Daraus entwickelt die Autorin eine komplexe, aber klare Argumentation und formuliert schließlich, durchaus unbescheiden, den Revolutionsbegriff um: Eine Revolution, so von Redecker, sei kein großer Kampf am großen Tag auf der genau richtigen Barrikade, sondern ein langwieriger, zäher, meist ganz alltäglicher Prozess, in beharrlichen Anstrengungen und oft übersehenen Zwischenräumen. Das besonders Schöne daran: Während in herkömmlichen Umstürzen der edle Zweck durchaus üble Mittel rechtfertigen konnte, wird in diesem Modell das für die Zukunft Erstrebte schon in der Gegenwart ausprobiert und ernst genommen.

Eva von Redecker „Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie sozialen Wandels“ Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 295 S., 29,95 Euro

Es geht hier nicht ums heroische Töten oder Sterben für die gute Sache, sondern, wie Frances Beal es 1969 in ihrem „Black Women’s Manifesto“ formulierte, darum, für die Revolution zu leben. Eva von Redecker bezieht sich ganz ausdrücklich auf diese und andere Feministinnen, zeigt aber auch, was konkretes Handeln von abstrakter Philosophie lernen kann – und umgekehrt.

Die Lektüre erfordert einiges an Aufmerksamkeit und Geduld, „Praxis und Revolution“ ist nun einmal eine philosophische Doktorarbeit. Zum Glück kann seine Verfasserin gut erklären – das zeigte schon von Redeckers 2011 veröffentlichte Butler-Einführung – und gibt in der Einleitung ein paar Lesetipps. So oder so regt ihr Buch dazu an, den Alltag, sei es in einem Projekt, einer Initiative, bei der Arbeit oder in Beziehungen, ernst zu nehmen – was aber nicht bedeutet, dass jeder Kampagnen-Click, jeder WG-Ausflug schon revolutionär ist. Sie entwickelt das Denkwerkzeug, solche Unterscheidungen zu treffen, vor allem aber eine Praxis zu kultivieren, die unsere Welt zum Besseren verändert. Und zwar radikal.

Dieser Artikel erschien zuerst in Missy 06/18.