Von Iseult Grandjean

Immer beim Kaffee mit Freundinnen wird mir bewusst, dass etwas gehörig schiefläuft in dieser Welt. Dass ich zwischen Büro und Zahnarzt eingeklemmte Cappuccino-Dates für eine der unnötigsten Zwangshandlungen des 21. Jahrhunderts halte, ist dabei nebensächlich, das Problem ist auch nicht, dass meine Freundinnen blasse Gestalten sind, die langweilige Existenzen führen. Das Problem ist genau das Gegenteil.

Sie liest in der Zeitung und er steht drin. © Les Anderson/unsplash

Der Feminismus als Erzählproblem

Denn irgendwann kommt das Gespräch immer auf Männer. Und oft so, dass alles Vorangegangene infrage gestellt wird; als wäre der Karriereerfolg plötzlich nichts mehr wert, wenn er nicht durch die Aufmerksamkeit irgendeines Tinder-Typen als Stellvertreter des Patriarchats legitimiert wird. Nach nur einem Espresso die Erkenntnis: Das Problem der Frau ist heute vor allem ein narratologisches. Denn in unserer vorsätzlich emanzipierten Gesellschaft konstruiert man die weibliche Identität noch immer über männliche Narrative – Männer werden im öffentlichen Diskurs z. B. eher durch den Beruf definiert, Frauen durch Beziehungen.
Und selbst wenn in Büchern oder Filmen eine weibliche Figur die Hauptrolle spielt, stehen ihr Konflikt und die narrative Entwicklung meist in Bezug zu einem anderen. Madame Bovary oder Mrs. Dalloway z. B. sind zweifelsohne starke Charaktere, ihre Abhängigkeit vom Patriarchat aber tragen sie schon im Namen. Wieso besteht in unserer Gesellschaft dieses starke Ungleichgewicht, das Männer einzeln definieren kann, die Rolle der Frau meist aber in ihrer Relation zu anderen? Das frage ich Barbara Vinken, international renommierte Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin, die in ihrem Buch „Die deutsche Mutter“ die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Halbschatten der Mythologie beleuchtet. „Trotz allem preisen diese Romane nicht die Ehe, sondern entlarven durch ihre Art, auf den Ehebruch zu reagieren, vielmehr eine Gesellschaft“, erklärt sie. „Die und nicht die Ehebrecherin  steht letztlich am Pranger.“

©Wikimedia Commons/Georgette Leblanc/gemeinfrei

Kann die alte Frau ans Meer?

Und in der Gesellschaft geht seit dem 19. Jahrhundert ja auch einiges voran: In vielen europäischen Ländern wächst der Anteil an Bildungsabschlüssen und Erwerbsquoten der Frauen, es gibt weibliche Führungskräfte, Staatsoberhäupter, Superheldinnen. Seit 1958 ist die Gleichheit von Männern und Frauen laut Artikel 3 im deutschen Grundgesetz verankert. Doch beim feministischen Bewusstsein haben uns Island und die skandinavischen Nationen längst überholt: In Schweden, dem Land mit der ersten feministischen Regierung, identifizieren sich 52 Prozent der Bürger als Feministen; in Deutschland sind es gerade mal 14 Prozent. Gleichberechtigung fängt im Kopf an – und muss auch da zu Ende gedacht werden.
Denn in Geschichten über befreite Frauen ist die Befreiung vom Patriarchat viel zu oft noch der Plot und nicht die Voraussetzung: Ein männliches Sujet kann von der Suche nach der Weltformel bis zum Roadtrip alles umspannen, die weibliche Figur dagegen kreist meist um Abhängigkeit oder Emanzipation vom System. Das Frausein muss immer thematisiert werden. Können wir uns überhaupt Biografien vorstellen, in denen es einfach nur um Menschen geht, die eben zufällig weiblich sind, Bücher wie „Die Fängerin im Roggen?“, „Die alte Frau und das Meer?“ oder „Die Physikerinnen?“.

Politik, Physik und das Patriarchat

Eine dieser Physikerinnen ist Angela Merkel. Ihre Doktorarbeit in physikalischer Chemie trägt den schlichten Titel „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“. In diesem Jahr wurde die deutsche Bundeskanzlerin zum wiederholten Mal auf die Forbes-Liste der einflussreichsten Personen der Welt gewählt. „Mutti“ hat es geschafft, dass man sie trotz ihres Spitznamens zuerst als Politikerin und dann erst als Frau wahrnimmt – was nicht zuletzt an ihrer Uniform aus amorphen Hosenanzügen liegt.
Sollte das Ziel jedoch nicht eher sein, dass sich die Rollen Frau und Politikerin gar nicht erst ausschließen – dass man bewusst Frau sein kann, ohne darauf reduziert zu werden? „Schon Margaret Thatcher war ausgesprochen weiblich, Theresa May ist sogar hochmodisch“, sagt auch Barbara Vinken. Sie ist sich sogar sicher: „Seit Adam und Eva gibt es diese Bezogenheit von Frau und Mann. Allerdings ist die Frage, ob dieses Verhältnis nicht etwa durch Überordnung des Mannes über die Frau, sondern tatsächlich durch gegenseitige Bezogenheit definiert ist.“ Um das in den Alltag zu übersetzen, brauchen wir deshalb aber auch ein Geschlechterverständnis, das Gleichheit nicht mehr nur als gesetzliche Einigung und die Frau nicht als Abweichung vom Mann, sondern als nicht ebenbildlichen, aber ebenbürtigen Part betrachtet. Seit den letzten Jahrhundertromanen befindet sich die Gesellschaft natürlich im Wandel – doch eben nicht genug.
Denn letztlich geht es hier ja nicht um Mann oder Frau, sondern um Machtstrukturen. Und da gilt genauso wie für andere benachteiligte Gruppen wie LGBTIQ-Personen, People of Color oder Menschen mit Behinderung: Privileg ist, wenn man es nicht merkt. Solange also ein Schwarzer Schauspieler auf der Bühne, ein Rollstuhlfahrer an der Uni oder eben eine Frau im Vorstand noch eine Meldung wert sind, können wir nicht zufrieden sein; wenn wir die Gesellschaft anders denken wollen, müssen wir anfangen, sie anders zu erzählen. Und das kann noch ein langer Prozess werden. Bekannt wurde Angela Merkel übrigens nicht als Wissenschaftlerin oder politische Autorität. Sondern als „Kohls Mädchen“.