Über Hoffnung
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Ich schaue aus dem Fenster und frage mich: Warum strecken diese Meter nicht die Arme aus nach mir? Warum zieht die Tiefe mich nicht an sich?
Ich stehe am Bahngleis und die S-Bahn fährt ein, warum kann sie mich nicht erfassen?
Ich nehme jeden Tag Valium und stelle eine Playlist zusammen für Lieder, die auf meiner Beerdigung gespielt werden sollen.
Zeit vergeht. Es wird schlimmer. Es wird besser. Wie oder warum, das weiß ich nicht so genau. Bisher ist es noch immer besser geworden, doch das weiß man jedes Mal erst hinterher.
Ich verliebe mich. Ich bringe mein hormonelles Gleichgewicht in Ordnung. Ich lagere die Tabletten bei einer Freundin ein. Eine andere Freundin zählt mir auf, welche Gründe sie in diesem Leben halten.
Weil Prometheus das Feuer zu den Menschen gebracht hat, sendet Zeus zur Strafe Pandora zu Prometheus‘ Bruder Epimetheus. Pandora geht in Epimetheus‘ Haus herum und findet eine Vase. Sie öffnet sie, oder vielleicht öffnet Epimetheus sie in ihrem Beisein, jedenfalls wird diese Vase geöffnet. Sie enthält alles Böse und Üble. Das meiste davon kann herausfliegen und verbreitet sich auf der Erde. Den beiden gelingt es erst, die Vase zu verschließen, als nur noch eines in ihr ist: die Hoffnung.
Es gibt unterschiedliche Interpretationen, was das bedeuten soll: Hoffnung ist eines von verschiedenen, schrecklichen Übeln, die die Menschheit strafen. Hoffnung ist das einzige Übel, von dem die Menschen verschont geblieben sind. Hoffnung ist das, was es den Menschen überhaupt erst möglich macht, die ganzen Übel, die aus der Vase gekommen sind, zu ertragen.
Die australische Soziologin Mary Zournazi schreibt: „Hope is what sustains life in the face of despair.“ Hoffnung ist, was in Zeiten der Verzweiflung das Leben erhält.
Das Leben erhalten wir, trotz allem, als Feminist*innen, als Anarchist*innen, als Kommunist*innen, entgegen der Widrigkeiten, in die wir geboren sind, entgegen der größeren und kleineren Übel, zwischen denen wir immer wieder wählen müssen, entgegen der Gewalt, die sich gegen unsere Identitäten und Überzeugungen richtet. Wir erhalten nicht nur das buchstäbliche Leben am Leben (Putzen, Kochen, Küssen, Pflegen) in den Feldern der reproduktiven Arbeit, wir erhalten auch das Leben, wie es sein könnte, am Leben. Das Leben, wie es sein könnte, sind unsere Träume und Utopien.
Ich kann nicht anders, als zu hoffen, dass ich den Tag erlebe: der Tag, an dem ich meine sexuelle Arbeit aus freien Stücken hergeben kann, in dem Körper, der mir gefällt, gleichberechtigt und ohne Angst, nicht über und nicht unter allen anderen. Die Hoffnung hat keine intellektuelle Grundlage. Die Übel und Schrecken, die unsere Leben bestimmen, sind nicht aus einer Vase der griechischen Mythologie gekrochen. Sie sind fest verankert im Hier und Jetzt, und hier und jetzt müssen wir sie bekämpfen.
Das Jahr liegt vor uns wie ein Kalender voller Einladungen dazu: z. B. am 14. Januar in Dessau, um der Ermordung Oury Jallohs zu gedenken und Aufklärung für das Verbrechen zu fordern. Oder den Black History Month über, den wir im Februar und hoffentlich das gesamte Jahr über begehen. Oder am 08. und 09. März, wo wir mit einem feministischen Streik deutlich machen, wie wir selbstbestimmt leben und arbeiten wollen.
Ich habe mich entschlossen weiterzuleben. Ich habe mich entschlossen, entgegen aller Argumente, weiterzuleben. Ihr, die ihr dies lest, lebt auch. Vielleicht sind wir noch hier, weil wir hoffen, dass wir eines Tages unseren Träumen in die Augen schauen.