Von Sibel Schick

Am 1. Januar bin ich seit genau zehn Jahren in Deutschland. Seitdem habe ich viel über Deutsche und Deutschland gelernt. Eine Chronologie, wie ich die fünf Säulen Deutschlands entdeckte.

1. Kälte

Am 31. Dezember 2008 feierte ich in Antalya das letzte Mal Silvester mit meinem Ex und ein paar Freund*innen. Es war nicht ganz kalt, ich hatte einen Kapuzenpullover und eine dünne Regenjacke an. Am nächsten Tag bin ich nach Köln geflogen und wurde am Flughafen von meiner Tante abgeholt. Minus 15 Grad, mir ist die Scheiße im Arsch gefroren. Meine Tante fuhr mich nach Ehrenfeld, wo meine Cousine wohnte. Bis ich meine erste Wohnung fand, wohnte ich bei ihr. Nach ein paar Tagen fing ich schon mit dem Deutschkurs an, nach circa einem Monat fand ich meinen ersten Job bei einem Kiosk.

Deutsches Brot kann vor Einbruch schützen © Tine Fetz

2. Rassismus

Das erste Jahr sprach ich nicht viel mehr Deutsch als „Tomatensaft“ und „Wie geht’s dir?“. Dafür wurde ich öfter angemacht, als ich mich erinnern kann: „Wir sind hier in Deutschland! Hier wird Deutsch gesprochen!“

Es dauerte nicht lang, bis ich Freund*innen fand. Auf einer Heavy-Metal-Party in Köln laberte ich Nici an, später lernte ich auf einem Mötley-Crüe-Konzert Sarah kennen. Irgendwann waren wir zu dritt beim „Underground“ in Ehrenfeld und dort war dieser Typ, auf den Sarah stand. Er hieß Oliver, glaub ich. Er sagte mir, dass er noch nie eine „Türkin“ kennengelernt habe, die auf „Gitarrenmusik“ steht (wtf lol), und dass er die rechtsextreme Organisation Pro Köln unterstütze, aber nur weil er gegen die Moschee in Ehrenfeld sei. Diese rassistische Kackbratze.

3. Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung

Da war ich gerade seit ein paar Monaten in Deutschland und dachte mir nicht viel dabei. Wenn ihr in ein neues Land zieht, wo ihr die Werte noch nicht so gut kennt, merkt ihr anfangs die Grenzen von Beleidigung, Kompliment und Bedrohung noch nicht. Deutsche sind unfassbar passiv-aggressive Menschen, die ihre Beleidigungen wie Komplimente und ihre Bedrohungen wie freundliche Anmerkungen formulieren. Seit zehn Jahren habe ich mir öfter „Komplimente“ anhören müssen, als ich zählen kann, wie schön, individuell oder integriert ich im Vergleich zu „anderen“ sei, die angeblich dumm, inkompetent und hässlich seien. Die sogenannten „Integrationsverweigerer“. Als ein Mensch, der auch privat sehr konfrontativ und extrovertiert ist, kann ich mit Menschen nicht umgehen, die sich nicht trauen, ihr wahres Gesicht zu zeigen, ich finde es feige.

4. Narzissmus

Ein weiteres wichtiges Merkmal der Deutschen ist, dass sie sich für äußerst modern, weit entwickelt und zivilisiert halten. Sie glauben, erfolgreich entnazifiziert zu haben, und dass ihre alltäglichen Mikroaggressionen (z. B. Rassismus oder Sexismus) nur Erfindungen seien. Sie glauben ernsthaft, keinen Feminismus oder Antirassismus zu brauchen (obwohl die neue Studie des Weltwirtschaftsforums das Gegenteil ergibt). Sie verkaufen ihren Rassismus, Sexismus und Transfeindlichkeit als Satire oder Zynismus und ersticken dabei in ihrer Arroganz. Ihr Humor besteht aus Treten nach unten. Menschen, deren Opas Jüdinnen und Juden erschossen, vergasten und verbrannten, erzählen sich heute rassistische Witze an Bartresen und lachen sich kaputt, und das ohne schlechtes Gewissen, denn alle wissen ja, dass sie es nicht „so“ meinen.

5. Schlechtes Essen

Ich bin nicht integriert, bevor ich nach Deutschland gezogen bin, war ich genauso wie heute. Das Einzige, was Deutschland mit mir gemacht hat, ist, mich zu radikalisieren. Inzwischen denke ich nicht mal, dass die Mehrheitsgesellschaft überzeugt werden muss, dass Migration Bereicherung für das Zielland bedeutet.

Ohne Migration wäre es jedoch undenkbar in Deutschland, vernünftig zu essen, denn in deutschen Supermärkten findet man nicht viel mehr als Wurzelgemüse. Dank der Migration können Deutsche heutzutage eine Vielfalt an Obst, Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchte genießen, wovon sie sonst nicht hätten träumen können. Eines muss man ihnen aber lassen: Hier wachsen die besten Äpfel und das deutsche Brot ist so gut hart und schwer, dass es als Selbstverteidigungswerkzeug gegen Einbrecher verwendet werden könnte.

In Deutschland habe ich das Konzept von „Hassliebe“ gelernt und es steht exemplarisch für meine Gefühle für dieses Land. Ich hasse es, habe aber nicht vor, woanders hinzugehen. Ich liebe es, aber lebe in Angst. Ich bleibe hier, habe aber absolut keine Ahnung, wie ich das schaffen soll.