Von Sophie Atkinson

Es war kein magisches erstes Zusammentreffen. Ich habe „Dancing For Mental Health“ nicht kennengelernt, weil mir ein*e Freund*in das Album empfohlen hat. Auch nicht, weil ich jemanden bei einer Hausparty geküsst habe, als es im Hintergrund gespielt wurde, sondern weil ich Opfer des extrem genauen Spotify-Algorithmus war. Das Kultalbum, welches 1983 erschienen ist, tauchte während der letzten Dezemberwochen in meiner Discover Weekly Playlist auf. Genau zu dem Zeitpunkt, als mich die Kombination aus endlosen Weihnachtsfeiern plus Alkohol und Schokolade statt ausgewogener Mahlzeiten an den Punkt gebracht hatte, dass ich dringend ein musikalisches Rettungsfloß brauchte. Irgendetwas, das nicht „Last Christmas“ war.

Ich hörte „Dancing“ also im Dezember zum ersten Mal und habe mich den ganzen Januar über weiterhin in seinen beruhigenden Rhythmen gesonnt. Das Album bringt all die guten Vibes mit, die man 2019 braucht. Das Konzept ist großartig: Die Rock-Promi-Fotografin Lynn Goldsmith hat dieses Album im Namen ihres Selbsthilfeguru-Alter-Egos Will Powers aufgenommen. Über glitchy Electronica-Flächen rappt Powers Tipps zum Lösen alltäglicher Probleme. Sie arbeitete mit verschiedenen Musiklegenden zusammen – etwa Nile Rodgers, Todd Rundgren, Steve Winwood, Sting and Sly&Robbie. Um das weltweit erste 3D-computeranimierte Musikvideo finanzieren zu können, verpfändete sie sogar ihre Wohnung.

©Lynn Goldsmith

Das Beste aber: Das Album ist kein Scherz, obwohl es sich wie ein musikalisches Augenzwinkern anhört. Wills Stimme, die Lynn mithilfe eines Vocoders erstellte, klingt wie das sanfte anonyme Voiceover amerikanischer Dauerwerbesendungen. Die Songtexte schwanken zwischen mystisch und absurd. Die Tracks selbst aber sind viel zu tanzbar, um tatsächlich Teil einer „ernsthaften“ Selbsthilfeaufzeichnung zu sein (was auch immer das wäre). Goldsmith erklärt im Gespräch, dass gerade die Mehrdeutigkeit des Albums wesentlich zum Erfolg beitrug. Es biete beides, sowohl Selbsthilfepraxis als auch einen großen Witz.

Die Selbsthilfemethoden klingen, in den meisten Fällen, vorsätzlich irrwitzig. „Dancing For Health“ etwa behauptet, dass man nur zu dem Song tanzen müsse, um emotional gesünder zu werden. „Kissing With Confidence“ empfiehlt, morgens, abends und vor einem Date auf Spanisch zu chanten. Das Lied „Will Powers“ schlägt vor, unter anderem die geheime Reich-im-Schlaf-Methode, Selbsthypnose, antikes Chanten, die menschliche Dynamomethode für komplette Erfüllung oder die Farbenvisualisierungsmethode auszuprobieren.

Wichtig sei es, an einen Ort zu gelangen, an dem man über seine Probleme lachen kann, meint Goldsmith. Dabei können bestimmte Disziplinen helfen wie etwa das Chanten: „Wenn ihr Worten durch Wiederholung Kraft verleiht, könnt ihr euch in einen anderen Geisteszustand versetzen. Ich meine die Lektionen, die in den acht Songs auf dem Album vorkommen also wirklich ernst.“ Diese in musikalische Form zu verpacken, hatte einen Grund: „Ich wollte, dass die Leute lachen, die Musik genießen und dazu tanzen, während sie das Haus aufräumen oder andere Dinge tun. Doch ihr Unterbewusstsein kann in diesen Momenten verinnerlichen, dass ihre Probleme getarnte Möglichkeiten sind.“

Und tatsächlich noch bevor ich von Lynns Theorie erfuhr, hatte sie bei mir schon funktioniert. Im Dezember hörte ich die Platte noch mit all der ironischen Distanz, die ich aufbringen konnte. Doch kaum hatte ich sie heruntergeladen, begann ich, sie überall zu hören – auf dem Weg zur Post, in der U-Bahn, im Supermarkt – und es begann, mir unter die Haut zu gehen. Die Botschaft des Songs „Opportunity“ scheint direkt aus „The Power of Positive Thinking“ genommen zu sein: „Be thankful for your problem / It’s a gift in disguise / It’s your chance to change.“ („Sei dankbar für dein Problem / Es ist ein verschleiertes Geschenk / Es ist deine Chance, dich zu ändern.“) Ich würde nie „The Power of Positive Thinking“ lesen, allein die Wikipedia-Beschreibung darüber bereitet mir Bauchschmerzen. Aber die Textzeilen in Verbindung mit einer Disco-Musikkulisse reichten aus, dass ich die Botschaft zu verinnerlichen begann. Ein Freund sagt die Übernachtung für meinen London-Trip ab? Kein Problem, eine großartige Gelegenheit, Zeit mit einem anderen Freund zu verbringen, den ich schon so lange nicht mehr gesehen habe! Ein Spülbecken voller schmutziger Pfannen? Nur eine Chance, diesen wirklich verrückten Charles-Manson-Podcast anzuhören.

Mein finsteres Fazit dieser Geschichte: Ich bin ein fröhlicherer Mensch geworden – ausgerechnet im Januar. Während alle anderen mit ihrer jahreszeitlich bedingten Depression umherwandeln, lächle ich Fremde in der U-Bahn an. Jesus. Also hört euch diese Platte auf eigene Gefahr an. Sie ist eingängig, zutiefst seltsam und könnte eine unerträgliche Zumutung aus euch machen, zumindest so lange bis die Sonne zurück kommt. Genießt es – aber mit Vorsicht.