Von Juli Katz

Die Anschläge auf „Charlie Hebdo“ und den Bataclan-Club, die Gelbwesten, #VerpfeifdeinSchwein und Macron als Präsident der Superreichen: Die letzten Jahre haben die französische Gesellschaft enorm geprägt. Die Journalistin und Autorin Romy Straßenburg, Jahrgang 1983, war dabei – und hat den Wandel in ihrem literarischen Debüt „Adieu liberté“ festgehalten. 

Die Mieten in Paris sind ein großes Problem – nicht nur für den Mittelstand. Wie hast du da überlebt? Als ich mit 24 nach Paris gekommen bin, habe ich erst mal geschluckt, weil meine Wohnung so viel kleiner war als in Berlin und vier Mal so teuer – das viel beschworene Savoir-Vivre, das Leben wie Gott in Frankreich, ist natürlich ein Klischee. Hier muss man schnell erwachsen werden, um mithalten zu können. Das ist auch der Grund dafür, dass man sich oft früher als in Deutschland bindet, heiratet oder eine Wohnung kauft und dann 30 Jahre damit beschäftigt ist, sie abzubezahlen. Jedenfalls wenn man es sich leisten kann. Als ich hierherkam, musste ich viele Jobs machen, die ich im Berlin der Nullerjahre wohl nicht gemacht hätte. Aber dem Vermieter war es am Monatsende ziemlich egal, ob ich mit einem Kunstprojekt beschäftigt war, sondern er wollte die Kohle sehen.

Also hast du auch viel einstecken müssen? Als Metropole ist Paris oft anstrengend, aber sie gibt eine Internationalität zurück, die es in Berlin erst seit einigen Jahren gibt. Gewöhnungsbedürftig war auf jeden Fall der intensive Rhythmus dieser Stadt, die krasse Bevölkerungsdichte und die scheinbare Arroganz, die nichts weiter ist als eine Art In-sich-gekehrt-Sein als Schutz vor all dem Trubel. 

© Etienne Laurent

Du warst Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von „Charlie Hebdo“ und hast die Anschläge auf den Bataclan-Club miterlebt. Hat das deine journalistische Arbeit geprägt? Als François Hollande 2012 gewählt wurde, hat man mir noch gesagt: Hey, Romy, wir brauchen hier nicht so viele Journalist*innen, Frankreich ist erst mal durch. Dann kamen die Anschläge 2015, später der spannende Wahlkampf 2017, der Aufstieg Macrons und jetzt auch noch die Gelbwesten. Eine sehr intensive Zeit, die so keiner vorausgesehen hat. Schwierig empfinde ich oft den Zynismus, den mein Beruf mit sich bringt. Früher dachte ich noch: Super, jetzt zieh ich mit meinem Notizblock und Füller in die Welt, um sie besser zu machen. Ein paar Jahre später sieht man die Unglücke, die passieren, und wie man als Journalistin daraus Profit schlägt. Mich hat das oft persönlich an moralische Grenzen gebracht und zur Frage geführt: Wozu bin ich überhaupt bereit? Kann ich das mit meinen Ansprüchen an mich selbst vereinbaren?

Und zu welchem Schluss bist du gekommen? Der Pressekodex gibt natürlich ein paar grundsätzliche Linien vor, aber in der journalistischen Praxis entscheidet man doch oft von Fall zu Fall. Wann gibst du dem Kameramann oder der Kamerafrau ein Zeichen, nicht mehr zu drehen? Wann lehnst du es ab, an bestimmte Orte zu gehen oder in die Intimsphäre von Menschen einzudringen? Gerade beim Fernsehen ist der Druck immens und als Freie schwingt immer die Angst mit: „Rufen die mich noch mal an, wenn ich jetzt Nein sage?“

Macron ist in den letzten Wochen durchs Land gereist, um sich ein Bild der Lage zu machen. Hat die Gelbwesten-Bewegung die Politik schon verändert? Bisher fühlen sich die Gelbwesten politisch nicht repräsentiert. Im Parlament und Senat sitzt eben eine Politikerkaste, die direkt von den Eliteschulen kommt. Und so schlimm man es auch finden mag, dass die AfD im Parlament sitzt – ihre Wähler*innen können nicht behaupten, ihre Stimme zähle nicht, denn wir haben eine Verhältniswahl. Die extreme Rechte in Frankreich ist aber gemessen an ihren Stimmen durch das Mehrheitswahlrecht unterrepräsentiert und schlachtet diese vermeintliche Opferrolle aus. Was diese Grand débat betrifft, waren wir alle ziemlich erstaunt, dass Macron an Popularität zugenommen hat, seit die Debatte läuft. Dabei hat er einfach sein Jackett ausgezogen, ist in Turnhallen in der Provinz gefahren und hat vier, fünf Stunden mit den Menschen da gequatscht. Das hat Respekt hervorgerufen, weil er dadurch nahbarer wurde. Im Moment sieht es so aus, als ob er sich Sympathien zurückholt. 

Ausgelöst wurden die Proteste durch die Benzinsteuer. Ein großes Problem ist die Mobilität und das Gefühl des Abgehängtseins. Und es ist natürlich schwierig, wenn einerseits überall kleine Bahn- und Buslinien in provinziellen Gegenden abgeschafft werden, und andererseits der TGV von Paris aus sternförmig die anderen Städte wie Straßburg, Marseille und Bordeaux ansteuert. Lange Zeit glaubte man, der Aufschwung der urbanen Zentren käme letztlich allen zugute. Aber es gibt in Frankreich wirklich sehr triste Orte, in denen es 30, 40 Prozent Arbeitslosigkeit gibt und die Leute nicht mehr groß rausgehen. Wohin auch, ohne Markt, ohne Bistro, ohne Plätze, an denen man sich gerne aufhält?

Es gibt ein paar Intellektuelle in Frankreich, die sich gerade mit den Gelbwesten solidarisieren. Didier Eribon, Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie sind bekannte Figuren des Literaturbetriebs, aber interessanterweise werden sie in Deutschland mehr gehypt als in Frankreich. „Rückkehr nach Reims“ erschien hier immerhin vor zehn Jahren. Eribon und Louis werden durch die Gelbwesten hierzulande noch einmal neu wahrgenommen – weil sie mit zu den Protestierenden auf die Straße gehen und wieder von Klassenkampf sprechen. Es gibt in den deutschen Feuilletons einen echten Franzosenfetisch: Man schaut neidisch auf die Literatur, Soziologie oder Philosophie made in France. Bei Intellektuellen in Deutschland sehe ich eine solche Politisierung derzeit nicht. 

Und die anderen?Wir, die wir in Brüssel, Berlin, Paris oder London leben, beschweren uns mitunter über unsere Prekarität, die in Wirklichkeit eine Luxusprekarität ist. Klar, manchmal lassen wir am Monatsende einen Besuch im Hipster-Restaurant aus, weil es finanziell eng wird. Aber die Gelbwesten erleben eine völlig andere, existenzielle Prekarität, die wir urbanen jungen Leute mit Uniabschluss nicht verstehen können. Deswegen schauen wir sie schräg an und tun uns schwer, uns mit der Bewegung zu solidarisieren. Wir spüren, dass irgendwas schiefläuft, aber noch wollen wir einfach zu denen gehören, denen es gut geht. Vielleicht verpassen wir dabei einen historischen Moment, um zu sagen: Ey, die haben recht, wir brauchen eine breite Bewegung, die für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft kämpft, für mehr Teilhabe, für mehr Schutz vor den Auswirkungen eines globalen, ultraliberalen Kapitalismus. Das ist das Tragische daran.

Wie steht es um die Emanzipation in Frankreich? Die Schauspielerin Catherine Deneuve hatte Angst um den Flirt, als #MeToo aufkam. Catherine Deneuve hat einfach danebengegriffen und am Thema vorbeigeredet, schließlich ging es ja bei #MeToo nicht um den in Frankreich hochgeschätzten Flirt, sondern um das Sichtbarmachen gesellschaftlicher Verhältnisse. Von der als bedrohlich empfundene Anmache auf offener Straße bis zur Vergewaltigung. Der öffentliche Brief, den sie gemeinsam mit Dutzenden anderen Frauen unterzeichnet hatte, hat uns bei diesen Problemen nicht weitergebracht. Auf Augenhöhe können doch alle flirten, wie sie wollen, aber eben wenn beide Seiten Bock haben, angemacht zu werden. 

Und auf Twitter wurde ein Hashtag initiiert, auf dem alle ihre Schweine verpfeifen sollten. Ja, das Hashtag war kompliziert, weil das hart an der Grenze zur Selbstjustiz war. In einigen Fällen wurden Männer namentlich genannt, bei denen noch gar nichts erwiesen war. Das Internet als eine Art Onlinepranger finde ich schwierig, aber gerade bei so einem sensiblen Thema fällt es schwer, das richtige Maß und den richtigen Moment zu finden. Ich bin mir bewusst, dass es ein theoretisches Gerüst braucht, um für feministische Anliegen argumentieren zu können. Aber manchmal finde ich die Querelen zwischen Feministinnen nicht hilfreich. Wir sitzen doch alle im selben Boot und wollen, dass das sich das Leben von Frauen verbessert. 

In deinem Buch beugen sich die meisten Frauenfiguren nicht mehr der stereotypen Erzählung „der französischen Superfrau“. Brechen Französinnen gerade mit dieser Rolle? Ich denke, in meiner Generation, in der offener über Burn-outs, Depressionen oder Angstzustände geredet wird, trauen sich mehr Frauen, ihre Überforderung zuzugeben. Sie leiden unter den überzogenen Ansprüchen an sich selbst, sie verzweifeln an dem Bild, das die Gesellschaft für sie vorsieht. Erfolgreich, verführerisch, intellektuell, kultiviert, gepflegt, Mutter, Geliebte, Ehefrau, Karriereweibchen … das ist ne ganze Menge. Meine Frauenfiguren wollen auf nichts verzichten: Stabilität und Abenteuer, Karriere und Familie, guten Sex … und in Ausnahmefällen auch noch Drugs und Rock’n’Roll – aber insgesamt sind wir schon recht zahm geworden.

Romy Straßenburg „Adieu liberté Wie mein Frankreich verschwand“, Ullstein, 240 S., 18 Euro