Interview: Ulla Heinrich

Das Hotel de Inmigrantes in Buenos Aires ist ein heute noch bestehender Ort und Ausgangspunkt eurer Recherchen. Welche Geschichte verbirgt sich dahinter?
Anne Jelena Schulte: Es wurde schon Ende des vorletzten Jahrhunderts errichtet, als um 1870 die erste große Migrationswelle aus Europa nach Argentinien kam. Damals wollte man gezielt Europäer*innen anlocken. Man brauchte Fachwissen und Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten wollten. Das Hotel de Inmigrantes am Hafen sollte wie ein italienisches Hotel aussehen, in gigantischen Dimensionen, auf tausende Menschen ausgerichtet. Für den imposanten Bau wurde sogar Marmor aus Italien importiert. Agenturen haben in Europa Reiseprospekte verbreitet. Gezielt wurde nicht von Asyl gesprochen, sondern von einem „Hotel“, das klang einladender. Die Menschen sind direkt von den Schiffen in das Hotel gekommen, haben Verpflegung und Einweisung in das Land erhalten, wurden über Landwirtschaftsmaschinen informiert. Es gab auf dem Gelände ein Krankenhaus und eine Zugstation. Von dort wurden die Einwander*innen direkt ins Landesinnere gebracht. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und während der zwei Weltkriege kamen immer mehr Menschen, denen es nicht darum ging, das Land zu kolonialisieren oder ein neues Leben zu beginnen, sondern die um ihr Leben flüchten mussten. In der Weltwirtschaftskrise und im Ersten Weltkrieg waren es vor allem Menschen, die vor Hungersnöten geflohen sind, auch aus der Schweiz. Im Zweiten Weltkrieg kamen viele, die aus politischen Gründen fliehen mussten. Buenos Aires hat nach New York die größte jüdische Auswanderungscommunity.
Susanne Abelein: Heute sind in dem Bau die Einwanderungsbehörde und ein Museum beheimatet. Die Einwander*innen kommen aus Lateinamerika, nicht mehr aus Europa.

©Tebbe Schöningh

Europäer*innen, die auf überfüllte Schiffe kletterten, gehören nicht zum aktuellen Narrativ, vielmehr schirmt sich Europa nach außen ab. Warum ist es wichtig, die Perspektive zu wechseln?
SA: Als die Flüchtlingsdebatte in Europa losging, habe ich mich erinnert, dass es ganz ähnliche Geschichten in Argentinien gibt, nur aus europäischer Perspektive. Es ist schon verwunderlich, dass dies in der Debatte nicht vorkommt. Europa hat Millionen von Geflüchteten produziert, die woanders eine Existenz finden mussten.
AJS: Das ganze katastrophale letzte Jahrhundert, mit all seinen Diktatoren und Hungersnöten, wird ausgeblendet. Europa war ein düsterer Ort, von dem man wegmusste. Egal wohin man schaute, nur martialische Führer. Das …