Von Miena Waziri

Wenn es etwas gibt, das die transatlantische Sklaverei gegenüber vorkolonialen Formen der Sklaverei herausstechen lässt, „dann ist es die Tatsache, dass Letztere ihren Gefangenen niemals einen Mehrwert abzupressen vermochten, wie er in der Neuen Welt erzielt wurde“, schreibt Achille Mbembe in seinem Werk „Kritik der schwarzen Vernunft“. Der Philosoph ist eine der führenden Figuren der postkolonialen Theorieschule, deren Vertreter*innen versuchen, die geschönte Erzählung des europäischen Kolonialismus zu entlarven.

Der rund fünf Jahrhunderte andauernde europäische Kolonialismus wurde von den Täterstaaten bis heute nicht aufgearbeitet. Er hat u. a. zwölf bis 13 Millionen verschleppte Afrikaner*innen, die Schaffung nachhaltiger wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse, die Zerstörung vorkolonialer Gesellschaftssysteme und Rassismus, wie wir ihn heute kennen, zu verantworten.

Postkoloniale Ansätze rücken in den Fokus, wie koloniale Narrative, Denkmuster und Wissensproduktion Kolonialismus ideologisch legitimierten. Kolonialismus wird mit seinem Höhepunkt in der Epoche der Aufklärung als Phänomen begriffen, das nicht als Verirrung der ansonsten emanzipatorischen Blütezeit zu betrachten ist, sondern als tief in das Aufklärungsprojekt eingeschrieben.

Theoretiker*innen verschiedener postkolonialer Schulen ist gemein, dass sie Kolonialismus als fortwährenden Prozess betrachten, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. Dabei beachten sie, dass (neo-)koloniale Gewalt auch weiterhin ökonomisch, militärisch und diskursiv ausgeübt wird. Sie machen sichtbar, dass der (Neo-) Kolonialismus auf einer vermeintlichen weißen, westlichen Überlegenheit basiert. Ein klassisches Thema postkolonialer Politikwissenschaft ist bspw. die Kritik an der Rhetorik, die militärische Interventionen der NATO im Irak oder in Afghanistan begleitet. Die Rechtfertigung dieser Interventionen knüpft dabei an Begründungsmuster alter Erzählungen des „barbarischen“, „zivilisationsfeindlichen“ Orients an, der vom Westen gebändigt (demokratisiert) werden muss. Den Irak zur „Achse des Bösen“ zu zählen (George W. Bush) oder „Deutschland am Hindukusch verteidigen“ zu wollen (Peter Struck), könnte man mit Edward Saids Schlüsselkonzept des Orientalismus demaskieren. Said versuchte sichtbar zu machen, dass der „Orient“ bloß ein Fantasiekonstrukt ist, um den Westen für zivilisatorisch überlegen zu erklären.

Postkoloniale Ansätze variieren je nach Gegenstand bzw. wissenschaftlichem Interesse – und sind sehr vielfältig. Frantz Fanon etwa zeigte auf, wie antikolonialer Nationalismus, also das Streben nach einem vom Unterdrücker unabhängigen Staat, ganze Gesellschaften politisch mobilisieren kann. Er beobachtete in diesem Zusammenhang z. B. die algerischen Unabhängigkeitsbestrebungen in den 1950er- und 1960er-Jahren. Andere Theoretiker*innen konzentrieren sich auf die konkrete Aufarbeitung des Kolonialismus in bestimmten Nationalstaaten, ob in den europäischen Täterstaaten oder den kolonisierten Ländern des Globalen Südens.

„Postkolonial“ bezeichnet also nicht eine einheitliche Schule, sondern eine Perspektive, die europäische Hegemonien herausfordert: Postkoloniale Perspektiven dekonstruieren eingespieltes europäisches Wissen im Hinblick auf seine rassistischen und eurozentristischen Grundlagen, machen koloniale Kontinuitäten in der Gesellschaft sichtbar und ziehen den Globalen Norden zur Verantwortung.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/19.