Interview: Thao Nguyen

Wovon handelt eure Performance „Poseur“?
Lena Chen: Die Performance basiert auf meiner eigenen Biografie. Revenge Porn und Cyberstalking traumatisierten mich während der kompletten ersten Hälfte meiner Zwanzigerjahre. Die zweite Hälfte verbrachte ich damit, dieser Vergangenheit zu entkommen, indem ich unter einer neuen Identität lebte. In „Poseur“ geht es darum, wie ich als das Aktmodell Elle Peril versuche, mich von einer schmerzhaften Geschichte zu befreien, und darum, wie ich mich selbst darin verlor. Es geht um Heilung und Überleben, aber auch um den universellen Wunsch nach Neuerfindung.
Frederika Tsai: „Poseur“ ist eine Suche nach den eigenen Identitäten, aber auch ein Denkanstoß an uns und an die Zuschauer*innen: Sind wir nicht Teil des Systems, das Frauen* unrecht tut? Leiden wir nicht auch darunter, dass wir uns in diesem System verloren haben? Und wer bin ich eigentlich?

©Edward Isais

„Do you like to watch or be watched?“ heißt es in eurer Ankündigung der Performance. Welche Problematik greift ihr hier auf?
Frederika: Den Voyeurismus. Der Voyeur hat die Macht über die Betrachteten. Aber ist dieses Machtverhältnis wirklich so einfach gestrickt? Und ist der voyeuristische Blick „einspurig“? Strebt der Voyeur nicht auch danach, gesehen zu werden? Was ist das für ein Gefühl? Oder welche Gefühle werden hervorgerufen?
Mit den Augen von Lena, den Zuschauer*innen sowie der Kamera der Videokünstlerin Effie Wu möchten wir diesen Fragen nachgehen. Alex Webers Musik und Lucas Paixãos Animation verdeutlichen nicht nur die verschiedenen Identitäten der zentralen Figur, sondern bilden ihre Interpretationen des aktiven Betrachtens und des Betrachtetwerdens ab. Ihre eigenen Lebensgeschichten sind mit eingeflossen. Bisherige Proben haben gezeigt, dass der Voyeur doch nicht alles so unter Kontrolle hat, wie er gerne glaubt. Diese Erfahrung werden die Zuschauer*innen bei unserer Performance tatsächlich auch machen. Lenas Arbeitsweise hat mich für vieles sensibilisiert. Ich habe zuvor immer versucht, „neutral und genderlos“ in einer professionellen Zusammenarbeit zu agieren. Aber was heißt das eigentlich für mich als cis Frau?
Lena:  Ich wurde oft gefragt, wie mir die Arbeit als Nacktmodell helfen könnte, da die Produktion der Bilder doch immer noch durch den männlichen Blick geprägt wird. In „Poseur“ lenke ich den Blick des Betrachters bildlich und buchstäblich nach innen. Ich fühlte mich den größten Teil meines Lebens objektiviert, und mir wurde klar, dass ich als Frau beobachtet werden würde, ob es mir gefällt oder nicht. Daher habe ich mich entschlossen, zumindest ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen, indem ich die Überwachungsbedingungen selbst diktiere.

Inwiefern?
Lena: Mit dem Annehmen der eigenen Sexualität gehen eine widersprüchliche Kraft und Verletzlichkeit einher. Seit jeher dienten Frauen männlichen Künstlern als „Musen“, haben aber selten für die daraus resultierende Arbeit Anerkennung erhalten. Nachdem mein Internet-Stalker meinen Ruf ruiniert hatte, hatte ich nichts mehr zu verlieren und entschied mich zu modeln und meine eigene Identität zum ultimativen Kunstwerk zu machen. Jedes Fotoshooting und jede Begegnung mit einem Künstler ließen Elle Peril immer realer werden. Am Ende benutzte ich männliche Künstler für meine Arbeit (der Schaffung eines Alter Egos) genauso, wie sie mich für ihre Arbeit (die Schaffung eines Bildes) benutzen.
Meine Kollaborateur*innen sind oft Männer, mit denen mich eine sexuelle Chemie verbindet, was erst einmal kontrovers erscheint. Aber eines meiner Ziele als Künstlerin ist es, Männer dazu zu bringen, sich mit ihren eigenen Ängsten und Wünschen auseinanderzusetzen.  Und angesichts der sexuellen Spannung im Schaffungsprozess selber ist dies meine Art, das historische Machtungleichgewicht zwischen den Geschlechtern auszugleichen.

Selbstporträt ©Lena Chen

Gibt es Widerstands- und Empowermentmomente in eurer Inszenierung?
Frederika: Wir spielen bewusst mit Elementen wie verführerischen Blicken, Catwalk, Stripping usw. Manche würden vielleicht sagen, wir reproduzieren Frauen als Sexobjekte. Was wir mit „Poseur“ aber machen, ist, die Macht dieser Elemente zu untersuchen und die möglichen Attacken auf das Patriarchat darzustellen. Ich bin mit Sexualität und deren Darstellung auf der Bühne bisher anders als Lena umgegangen. Für mich persönlich ist bereits unser offener Dialog und natürlich das Ergebnis als Ganzes Empowerment.
Lena: „Poseur“ war für mich eine unglaublich transformative, persönliche und kreative Reise. Einer der empowerndsten Aspekte sind die Zusammenarbeit mit Frederika und die Gespräche darüber, wie sich Sexismus und Rassismus in unserem beruflichen oder romantischen Leben manifestieren. Häufig präsentiere ich Frederika während unserer Proben sehr radikale Theorien über sexuelle Ermächtigung. Sie stimmt nicht immer mit mir überein, aber ist sehr offen und unterstützt meine Ideen. Dies ist eine so persönliche Geschichte, dass es für mich wichtig war, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der meine kreative Vision respektiert und versteht. Angesichts der Tatsache, wie oft Frauen falsch dargestellt werden, fühlt sich unsere Zusammenarbeit wie der ultimative Akt der Selbstbestimmung an.

Welche Botschaften wollt ihr dem Publikum mitgeben?
Frederika: Das Machtverhältnis zwischen „Watching and be watched“ ist gar nicht so einfach, wie es auf dem ersten Blick so aussieht. Durch „Poseur“ möchten wir die Zuschauer*innen daran erinnern. Bleibt wachsam, der Gradwechsel kann sehr schnell stattfinden. Darüber hinaus wollen wir vor allem, dass eine neue, sichere Kultur geschaffen wird.
Lena: Ich hoffe, die Öffentlichkeit erkennt, dass sie Mitschuld an der Kultur trägt, in der wir leben, die voller Mitgefühl oder voller Grausamkeit sein kann. Angesichts der Allgegenwart des Internets ist jeder ein potenzielles Opfer oder Täter. Aus diesem Grund ist es in unserem Interesse, sichere Räume zu schaffen, in denen Frauen – und Menschen aller Identitäten – sich ohne Gefahr vor Bestrafung selbst oder sexuell ausdrücken können.

Die Performance „Poseur“ wird erstmals zur Eröffnung des Expo Festivals am 28.04. am English Theatre Berlin aufgeführt.
Regie: Frederika Tsai
Performance: Lena Chen