Von Sibel Schick

CN: Dieser Text thematisiert Vergewaltigung

Wenn du von Frauenfeindlichkeit betroffen bist, ist es schwer, nicht angegriffen zu werden: Bevor du das Haus verlässt, musst du an alles denken, was als Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt entwickelt wurde. Wie lautet noch mal das Passwort? Wie heiße ich?

Schon seit Jahren sucht die Wissenschaft nach Lösungen, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Bisher wurden BHs entwickelt, die bei Übergriffen Alarm schlagen. Schüler*innen einer Highschool in Miami entwickelten 2017 einen Strohhalm, der anzeigt, falls sich K.O.-Tropfen im Getränk befinden. Dieses Jahr entwickelte Kim Eisenmann aus Deutschland ein Armband gegen K.O.-Tropfen, das innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war.

Gerüstet für den Alltag in einer frauenfeindlichen Welt ©Tine Fetz

Gegen sexuelle Belästigung werden auch gesellschaftliche Maßnahmen entwickelt. So führte 2017 ein Lokal in Saint Petersburg in Florida ein Alarm-Wort ein. Wenn eine Person belästigt wird, kann sie an der Theke einen „Angel shot“ bestellen, und sie wird entweder zu ihrem Auto oder zum Uber begleitet.

Umsonst ist all das allerdings spätestens dann, wenn der Fahrer Gewalt gegenüber seinen Fahrgäst*innen ausübt. So vergewaltigte im Dezember vergangenen Jahres ein 34-jähriger Mann in Seattle eine Frau in ihren Zwanzigerjahren. Er gab sich als Uber-Fahrer aus. Auch Samantha Josephson, eine 21-jährige Studentin aus Columbia, South Carolina stieg in diesem Jahr in einen Wagen, den sie für ihr bestelltes Uber hielt. Der Fahrer tötete sie, schmiss ihren Körper auf ein Feld, wo er 14 Stunden später von Jägern entdeckt wurde.

Die Student*innen der South Carolina University, an der Samantha Josephson studiert hatte, riefen daraufhin die Kampagne #WhatsMyName ins Leben, um Sicherheitstipps zu verbreiten, die Fälle wie den von Josephson verhindern sollen. Auf der Website whatsmyname.org wird u.a. empfohlen, den Fahrer vor dem Einstieg nach dem eigenen Namen zu fragen, um herauszufinden, ob es sich um den bestellten Wagen handelt.

Auch für viele von Frauenfeindlichkeit Betroffene, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, sind sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung wiederkehrende Probleme. In Ländern wie Indien, Iran, Japan, den Arabischen Emiraten, Ägypten, Indonesien, Brasilien und der Türkei gibt es Busse und Bahnabteilungen, die nur von Frauen bestiegen werden dürfen. Diese sollen Frauen vor Gewalt und sexueller Belästigung schützen. Das Fahrpersonal, von dem die Gewalt oft ausgeht, ist dennoch fast immer männlich.

2015 tötete ein Busfahrer in der Türkei die 20-jährige Studentin Özgecan Aslan. Nach der Uni stieg Aslan in den Bus nach Hause. Irgendwann war sie mit dem Fahrer allein im Bus. Er hielt den Wagen an, versuchte sie zu vergewaltigen und als sie sich wehrte, tötete er sie. Ihr Mord löste landesweit große Demonstrationen gegen Frauenmorde aus, und gleichzeitig befeuerte er die Diskussionen um die sogenannten pinken Busse, die nur von Frauen bestiegen werden dürfen. Feminist*innen wehrten sich lange gegen den pinken Bus, verhindern konnten sie die Einführung jedoch nicht. Am Ende konnten auch die Busse nichts an der hohen Mordate an Frauen ändern: In der Türkei wurden 2016 insgesamt 284 Frauen getötet, 2018 lautete die Zahl mindestens 391.

Feminist*innen der Türkei wiesen in der Debatte um die pinken Busse zum einen darauf hin, dass Frauen damit aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden und gezwungen sind, unter sich zu bleiben. Zum anderen könne die Annahme entstehen, dass Frauen, die in gemischten Bussen sitzen, belästigt werden möchten. In einer Welt, in der nach sexuellen Übergriffen gegen Frauen die ersten Fragen „was hatte sie an“, „war sie alkoholisiert“ und „was hatte sie so spät auf der Straße zu suchen“ lauten, ist die Sorge nach Täter-Opfer-Umkehr nur legitim.

Als 2012 eine 23-jährige Studentin in einem Bus in Delhi brutal vergewaltigt und getötet wurde, wurden zwar drei der Täter und der Fahrer zur Todesstrafe verurteilt, aber die Justiz steht nicht ausnahmslos an der Seite der betroffenen Personen. Im April diesen Jahres verurteilte Richter James P. McClusky in New York den Busfahrer Shane Piche wegen der Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens zu zehn Jahren auf Bewährung und 1750 US-Dollar Bußgeld. Aktivist*innen starteten eine Petition mit aktuell über 50.000 Unterstützer*innen, mit der sie die Entlassung des Richters fordern. Niedrige Strafen und gar Straflosigkeit bei Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist auch in vielen westlichen Ländern ein Phänomen und keineswegs ein Monopol von Ländern, die vom Islam geprägt sind.

Alle Maßnahmen, die potenzielle Betroffene selber ergreifen müssen, sei es ein Chip im BH, ein bestimmter Bus oder die simple Frage nach dem eigenen Namen, verraten etwas existenziell Wichtiges über die Welt, in der wir leben: dass wir glauben, dass sexualisierte Gewalt unvermeidbar sei, und dass wir selber für deren Vorbeugung verantwortlich seien. So nach dem Motto: „Mädels, lasst euch nicht vergewaltigen.“

Auch in Ländern wie Deutschland oder England, die in Europa als fortschrittlich gelten, ist das der Fall: 2015 schlug auch Jeremy Corbyn Busse und Bahnabteilungen vor, die nur für Frauen sind, um sie vor Gewalt zu schützen. Das K.O.-Tropfen-Armband wurde von einer deutschen Studentin entwickelt.

Aber was soll passieren, wenn man das Armband nicht dabeihat und gerade an jenem Abend angegriffen wird? Wie gehen wir damit um, wenn wir nicht im „Frauenbus“ belästigt werden, sondern zwischen der Bushaltestelle und der Arbeit? Wenn wir in der Kneipe das Alarm-Wort aussprechen und sicher in den Uber gebracht werden, aber der Fahrer gewalttätig ist – was machen wir dann?

Was passiert, wenn wir keinen gechippten BH anhaben, z. B. während wir schlafen? Immerhin passieren die meisten Fälle von Gewalt gegen Frauen im eigenen Zuhause.

Und was, wenn wir alles richtig machen, aber der Gewalt trotzdem nicht vorbeugen können? Sind wir dann selbst schuld? Und vor allem: Passt sich irgendwann die Justiz an diese Maßnahmen an und erwartet von Betroffenen, dass sie selbst dafür sorgen hätten müssen, nicht angegriffen zu werden? Beispielsweise wenn wir das Armband liegen lassen und gerade dann angegriffen werden, oder in einem „gemischten“ Bus sitzen, glauben die Richter, dass das eine Botschaft an die Täter vermittelte? Dass das quasi eine Einladung war?

Gelernte Hilflosigkeit bedeutet, dass man sich so sehr daran gewöhnt und so fest davon überzeugt ist, keine Hilfe zu bekommen, dass man sich keine Hilfe sucht, wenn es notwendig ist. Dieser Begriff sollte ergänzt werden um die Hilflosigkeit, dass sexuelle Übergriffe für potenziell Betroffene so selbstverständlich und unvermeidbar scheinen, dass sie lieber sich und ihr eigenes Verhalten ändern, anstatt dass sie von den Tätern einfordern, nicht gewalttätig zu sein. Präventionsmaßnahmen, die potenziell Betroffene ergreifen, sind keine Lösung für Gewalt gegen Frauen, das werden sie nie werden. Die einzige Lösung ist, gemeinsam eine neue Kultur zu schaffen, in der Männer lernen, nicht gewalttätig zu sein. Eine Kultur, die keine Täter*innen aus Betroffenen macht. Eine, die sexualisierte Gewalt nicht als Schicksal und gegeben betrachtet. Eine Bitte an Wissenschaftler*innen, sich das für die zukünftigen Entwicklungen zu merken, wenn sie wieder mal spontan auf die Idee kommen, gegen Gewalt gegen Frauen zu kämpfen.