Aus dem Drecksleben
Von
Von Juli Katz
Nehmen wir an, wir sind eine*r von monatlich drei Tourist*innen, die durch Rochdale pilgern. Wir sitzen gut gepolstert, perfekt hydriert und wohltemperiert auf den vorderen Sitzen im Bus, auf der Fahrt durch die Kleinstadt nahe Manchester, während zu unserer Linken sieben Drogenhochburgen in den Himmel ragen, zu unserer Rechten ein paar Menschen auf der Straße zu Prince-Charles-Fotos onanieren und an Weißbrot aus Sozial- kaufhäusern kauen. Ärzt*innen sterben an Übermüdung, niemand hier hat gute Zähne und Teeniemütter präsentieren sich schwanger, wenn extra angereiste Filmcrews für Sozialdramen casten wollen. In diesem trostlosen Ort beginnt Sibylle Bergs Roman „GRM. Brainfuck“, und irgendwo im Hintergrund dröhnt „wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben“.
Die ziemlich düstere Musik heißt GRM – also GRIME – und ist die einzige Hoffnung für vier Kinder, denen wir von Mitte der Neunzigerjahre bis in die Nach- Brexit-Zeit folgen, von Rochdale nach London, von der einen Verzweiflung in die nächste. Da sind Karen, die gern
e Lichtschalter ableckt, Hannah, die aussieht wie eine „kleine Ausgabe einer interessanten Erwachsenen“, und Peter, der das Sprechenlernen versäumt hat und gar nicht so dringend nachholen will. Don, sieben oder fast acht, ist vor allem wütend. Alle vier wurden von ihren verkorksten (oder mittlerweile toten) Eltern mindestens vernachlässigt, wenn nicht missbraucht, in jedem Fall aber alleingelassen. „Wir haben die Macht zu gar nichts“, weiß Don. Und was hilft gegen einsame Zustände, wenn nicht das Verbündetsein? Also planen sie eine Revolution, schmieden einen Fluchtplan und erstellen eine Todesliste. Oder, na ja, versuchen es zumindest.
Wer Sibylle Bergs 14 Vorgängerromane wie „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“, „Amerika“ oder „Ende gut“ gelesen hat, wird die Verzweifelten, Einsamen, Traurigen und Unangepassten schon kennen. Auch da wurde schon immer viel gestorben und gezweifelt. Über sich selbst schreibt Berg auf Twitter, sie kaufe nix und ficke niemanden. Die Schriftsteller…