Von Nadja Klopprogge

Am 14. Juni legten Hunderttausende Frauen* in der Schweiz ihre Arbeit nieder. Sie bestreikten nicht nur ihre Lohnarbeit, sondern auch ihre unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Familie. Sie folgten dem Aufruf der Gewerkschaft UNIA und vielen weiteren dezentralen Streikkommitees – ihre offiziellen Forderungen: „Respekt – mehr Lohn – mehr Zeit.“ Lohnungerechtigkeit, drohende Armut im Alter, sexuelle Belästigung, die Last unbezahlter Arbeit in Familie und Haushalt: In Betrieben, Krankenhäusern, Kitas, in Hochschulen und auf öffentlichen Plätzen haben Frauen* mit ganz unterschiedlichen Aktionen deutlich gemacht, dass es so nicht weitergeht. Am Nachmittag schoben sich Demonstrationszüge durch die Straßen; in den Innenstädten stand der Verkehr gänzlich still, ganz nach dem Motto des letzten großen Frauenstreiks in der Schweiz am 14. Juni 1991: „Wenn Frau will, steht alles still!“

©Christian Willner

Schon vor dem Streik schien sich die deutsche Presse einig: Die Gründe für den Streik lägen darin, dass die Schweiz beim Thema Frauen*rechte Nachholbedarf hat. Zwar zeigte sich die Presse beeindruckt von den vielfältigen dezentralen Aktionen und der schieren Anzahl von Frauen*, die an diesem Tag auf die Straßen gingen. Dennoch bestimmte ein Narrativ die Berichterstattung über den Streik. Die Schweiz, so ein Artikel im „Spiegel“, sei eines der rückständigsten Länder Europas, wenn es um Frauen*rechte geht. Gestützt wird das Narrativ mit dem historischen Argument der späten Einführung des Wahlrechts für Frauen im Jahr 1971; oder mit der verzögerten rechtlichen Umsetzung des Gleichstellungsparagrafen in 1996. Kurz: Die Forderungen der Frauen in der Schweiz im Jahr 2019 erscheinen in den Darstellungen als ein weiterer Schritt in einem Prozess der langsamen Angleichung an einen nicht näher erläuterten fortschrittlicheren Status quo außerhalb der Schweiz. Am Tag des Streiks habe ich mich aufgemacht, um der Idee der Rückständigkeit auf die Spur zu kommen. In Basel habe ich mit sechs Frauen gesprochen, um mehr über ihre Streikgründe zu erfahren.

Für mich begann der Streiktag auf dem Petersplatz vor dem Kollegienhaus der Universität Basel. Hier hatten die Organisatorinnen der Streikgruppe der Uni einen öffentlichen Brunch organisiert.

Auch Michèle Fuchs ist auf ihrem Weg durch die Stadt an den Petersplatz gekommen. Michèle ist Künstlerin, Primarschullehrerin und pflegt ihre Mutter. Mit Le Reines Prochaines, einer feministischen Performancegruppe, besingt Michèle mit ihren Mitstreiterinnen seit Mitte der 1980er-Jahre die großen Fragen des Lebens, die sich aus dem Alltäglichen ergeben.

Warum bist du heute auf der Straße?
Michèle: Ich bin heute hier, um die Anliegen von uns allen zu vertreten und zu unterstützen. Ganz persönlich beschäftigt mich derzeit das Thema Pflege. Es geht mir um die Frage, wer die Aufgabe der Pflege von Familienangehörigen übernimmt. Ich selbst betreue derzeit meine Mutter und habe zuvor schon meinen Vater gepflegt. Mich ärgert die Selbstverständlichkeit, dass mein Bruder diese Aufgaben nicht übernimmt. Und er findet auch immer gute Gründe, so dass ich auch nie wirklich eine Wut habe. So sorge doch der Staat für uns; ich mache das doch eh viel besser als er und ich könne das auch viel besser ertragen. Und dann möchte ich wütend sein! Mir ist es wichtig zu zeigen, dass es eben nicht selbstverständlich ist, dass es zumeist die Frauen sind, die diese Aufgaben übernehmen. Wir müssen grundlegend über das Thema nachdenken und darüber sprechen.

Ist der Streik heute für dich auch ein Anlass, über die unbezahlte Care-Arbeit zu sprechen?
Ich spreche mittlerweile ganz viel darüber, weil eben sonst nicht genug darüber gesprochen wird, sowohl innerhalb der Familie als auch in der Öffentlichkeit. Vor allem Männer sprechen nicht darüber. Wir müssen also auf allen Ebenen darüber reden, um Einstellungen zu verändern. Das beinhaltet auch die Analyse, um zu verstehen, warum und wie ich immer in diese Rolle komme, die Verantwortung zu übernehmen. Aber wir müssen auch fordern und sagen: „Verdammt, jetzt bist du dran!“

©Christian Willner

Neben Michèle steht Fabienne, die ihre Tochter begleitet.

Was hat dich heute hier zum Petersplatz gebracht?
Fabienne: Ich gestehe, ich bin heute hier, weil meine zwölfjährige Tochter sehr aktiv ist. Sie hat sehr viele Mitschülerinnen mobilisiert und gestern im Lehrerzimmer in einem Referat über das Thema Feminismus und Frauen*Streik ganz viele Lehrer*innen noch von den Zielen des Streiks überzeugt. Auch an mir rüttelt sie viel und das ist auch für mich eine Chance, immer wieder über Fragen von Sexismus und Feminismus nachzudenken und selbst einen Schritt weiterzukommen.

Ladina und acht ihrer Mitschülerinnen sitzen auf einer Decke umringt von anderen Frauen, die zum Brunch gekommen sind. Sie alle tragen ein pinkes Tuch um den Kopf als Zeichen ihrer Unterstützung der Ziele des Frauen*Streiks.

Was hat dich dazu bewegt, heute am Streik teilzunehmen?
Ladina: Die Frauenbewegungen fand ich schon sehr lange spannend. Wahrscheinlich spielt da meine Großmutter eine wichtige Rolle. Sie war am letzten großen Frauenstreik 1991 beteiligt und hat mir viel mitgegeben. Wir haben uns sehr viel darüber unterhalten, warum sie damals dabei war. So wie sie es damals tat, wollte ich mich heute auch einbringen.

Was genau hast du gemacht?
Ich habe mich in meiner Schule engagiert. Gestern habe ich z. B. noch einen Vortrag im Lehrerzimmer gehalten, in dem ich erklärt habe, warum ich denke, dass es immer noch wichtig ist, am Frauen*Streik teilzunehmen.

Streiken deine Lehrerinnen heute auch?
Ob alle streiken, weiß ich nicht. Aber mein Klassenlehrer übernimmt bspw. die Aufgaben einer Kollegin, damit sie am Streik teilnehmen kann.

Was hast du denn gestern in deinem Vortrag gesagt?
Obwohl wir offiziell als gleichberechtigt gelten, gibt es noch so viele Erwartungen und Vorstellungen, wie eine Frau sein muss, was sie kann und darf. Das ist weiterhin ein Problem, gegen das ich mich auch heute wehren möchte.

Dem Austausch und dem gemütlichen Beisammensein folgte am frühen Nachmittag ein offizieller Akt. Um 14:30 Uhr übergaben die AG Frauen*Streik und die queerfeministische Hochschulgruppe ihre Streikforderungen an die Hochschulleitung, die von Sibylle Schürch vertreten wurde.

Mit Aline Voigt, Doktorandin im Department Geschichte, Aktivistin im Frauen*Streikkommittee der Stadt und Mitinitiatorin der Arbeitsgruppe Hochschulen an der Universität Basel habe ich über den Streik an der Hochschule und die Forderungen der Arbeitsgruppe gesprochen.

Warum hast du dich dazu entschlossen, dich aktiv an der Organisation des Frauen*Streiks zu beteiligen?
Aline: Es gab nicht den einen Grund. Ich bin 1991 im Jahr des ersten Frauenstreiks geboren. Rückblickend ist mir bewusst geworden, wie lange somit der letzte Frauenstreik schon her ist, bei dem sich Hunderttausende Frauen organisierten, um etwas zu erreichen. Ich hatte das Gefühl, dass es jetzt wieder ein Moment ist, an dem wir viel erreichen können, wenn wir uns organisieren.

Du hast dich zunächst im Streikkomittee der Stadt organisiert, dann aber beschlossen, die Arbeit auch in die Universität zu tragen. Warum?
Mir war es wichtig, dass auch an den Hochschulen etwas passiert. Das war bis jetzt nicht so, weil die Uni sich manchmal auch als unabhängig von der Gesellschaft versteht oder verstehen will. Aber das ist natürlich nicht so. Die universitären Strukturen sind historisch gewachsen und auf Männer ausgerichtet. Es ist Zeit, diese Strukturen konsequent zu hinterfragen.

Das Thema fair bezahlte Arbeit spielt in euren Forderungen, die ihr gerade an die Universitätsleitung übergeben habt, auch eine wichtige Rolle. Ist ungerechte Bezahlung also auch ein Problem, mit dem sich Hochschulen auseinandersetzen müssen?
Ja, in der Tat. Es ist hinreichend bekannt, dass in Berufen, in denen vor allem Frauen arbeiten – vor allem in reproduktiven und Care-Tätigkeiten – der Lohn besonders niedrig ist. Aus einer hochschulpolitischen Perspektive muss hinzugefügt werden, dass auch Geisteswissenschaftler*innen weniger verdienen als diejenigen mit Abschlüssen in den sogenannten MINT-Fächern, die anteilig mehr Männer studieren. Dazu gehört auch, dass sich beispielsweise die Universität Basel als eine MINT-Universität präsentiert, obwohl sie eine Volluniversität ist. Damit werden andere Disziplinen, die viel häufiger von Frauen gewählt werden, entwertet. So haben die Gender Studies z. B. nur eine Professur. Es kann auch nicht allein die Lösung sein, mehr Frauen dazu zu bewegen, sich in MINT-Fächern einzuschreiben. Vielmehr muss es auch darum gehen, dass Fächer, für die sich Frauen entscheiden, als gleichwertig anerkannt werden.

In euren Forderungen denkt ihr aber auch über die Grenzen der Universität als Arbeitgeberin nach.
Genau, unsere Forderungen formulieren eben nicht nur das Ziel, Frauen in hohe Positionen zu befördern. Es geht auch um eine Reflexion darüber, wie sich die Arbeit an der Universität gestaltet und unter welchen Bedingungen diese Arbeit stattfindet. Wie ich bereits gesagt habe, funktioniert die Uni noch auf Grundlage gewachsener Strukturen, in denen männliche Professoren arbeiteten, während bei ihnen zu Hause von Ehefrauen unbezahlt oder von Haushälterinnen schlecht bezahlte reproduktive Arbeit geleistet wurde. Diese Strukturen bestimmen noch heute die Arbeitsbedingungen, die es zu ändern gilt. Eine Idee von uns war es z. B., dass die Universität auch die Partner*innen von Angestellten der Uni, die die Hausarbeit verrichten, bezahlen könnte. Mal schauen, was sie dazu sagen!

Die Forderungen sind übergeben, was ist der nächste Schritt?
Mit der Übergabe der Forderungen soll zunächst ein Prozess angestoßen werden, in den Dialog zu treten. Ich hoffe, dass die Avuba (Assistierendenvereinigung der Universität Basel) und die Skuba (Studentische Körperschaft der Universität Basel) als Vertretungen des Mittelbaus und der Studierenden, unsere Forderungen aufgreifen und ihre Aufgabe wahrnehmen, unsere Interessen zu vertreten.

Welche Diskussionen habt ihr in der AG bei der Ausarbeitung der Forderung geführt?
Ich muss sagen, es war überraschend klar, um was es geht. Wenn wir diskutiert haben, dann ging es eher um Detailfragen, die wir diskutiert haben, wie z. B., ob wir es Elternzeit, Vaterschaftsurlaub oder Mutterschaftsurlaub nennen. Es gibt für beides pro und kontra und daher haben wir uns einfach dazu entschieden, beide Begrifflichkeiten in die Forderungen einzubeziehen. Insgesamt waren wir uns, auch aufgrund von Gesprächen, die wir schon vorher hatten, ziemlich schnell einig.

Der 14. Juni 1991, der Tag des ersten großen Frauenstreiks vor 28 Jahren, an dem etwa 500.000 Frauen innerhalb der Schweiz beteiligt waren, ist ein wichtiger Referenzpunkt, der immer wieder erwähnt wird. Dennoch, in vielerlei Hinsicht ist der Frauen*Streik 2019 nicht einfach eine Wiederholung oder Wiederauflage des Streiks von 1991. Was ist anders?
Ein kleines aber sichtbares Detail ist das Sternchen nach dem Wort Frauen*. Das gab es 1991 noch nicht. Für mich repräsentiert das Sternchen zwei Aspekte. Erstens weist es auf die Konstruiertheit von Geschlecht hin. Deswegen finde ich es wichtig, dem Begriff Mann* oder Männer* ein Sternchen anzufügen. Damit eben nicht Frauen* auf das Konstruiertsein reduziert werden. Der zweite Ansatz möchte mit dem Sternchen zum Ausdruck bringen, dass auch Menschen eingeschlossen werden, die unter Diskriminierung leiden, weil sie als Frauen* gelesen werden, obwohl sie sich vielleicht selbst gar nicht als Frauen verstehen. Insgesamt werden auch Fragen von intersektionalen Dynamiken der Diskriminierung viel deutlicher angesprochen. Das heißt, auch Fragen von Rassismus und Sexualität spielen eine wichtige Rolle bei diesem Streik, wenn es z. B. auch darum geht, dass viele besonders schlecht bezahlte Jobs in der Care-Arbeit vor allem von Migrantinnen* ausgeführt werden.

©Tilman Pfäfflin

Am Nachmittag bewegt sich die Gruppe vom Petersplatz dann gemeinsam mit einem Bollerwagen, auf dem ein Lautsprecher befestigt ist, mit Transparenten und Plakaten gut hörbar in Richtung des zentralen Treffpunkts am Theaterplatz in Basel. Der Platz ist bereits gut gefüllt, als die Gruppe ankommt, während immer mehr Frauen*gruppen zum Theaterplatz ziehen, wo sie mit Jubel und Applaus empfangen werden. Eine besonders große Gruppe findet keinen Platz mehr auf dem Theaterplatz und bleibt auf der anliegenden Straße stehen. Sie alle tragen weiße Kittel und kommen vom Universitätsspital. Unter ihnen treffe ich Lucia, die am Unispital als Pflegefachfrau arbeitet.

Warum bist du heute hier?
Lucia: Mir geht es vor allem darum, dass wir für die gleiche Arbeit auch den gleichen Lohn bekommen müssen. Außerdem setze ich mich für alternative Arbeitsmodelle ein wie Teilzeitarbeit oder Jobsharing. Damit soll die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden.

Gerade im Pflegebereich war es sicher nicht so einfach, einen Streik zu organisieren, ihr könnt ja nicht einfach eure Arbeit niederlegen?
Das haben wir anders gelöst, so zeigen die Kolleginnen mit Pins und Plakaten ihre Unterstützung. Leider durften wir erst heute auch auf den Fluren des Spitals für den Streik werben. Vorher war es uns nur gestattet, unsere Plakate in den Büros aufzuhängen. Dafür haben wir heute mittags in der Kantine Streiksirup ausgeschenkt und unsere Forderungen für eine faire Bezahlung und bessere Arbeitsbedingen an die Spitalleitung übergeben. Jetzt freue ich mich darauf, mit meinen Kolleginnen und den solidarischen männlichen Kollegen auf dem Demonstrationszug durch die Stadt zu laufen und andere für unsere Forderungen zu sensibilisieren.

Um 17 Uhr setzten sich die Frauen‘ gefolgt von solidarischen Männern nach und nach in Bewegung. Es dauerte lange, ehe sich der gesamte Protestzug vom Theaterplatz auf der Route verteilte; als die Ersten nach dem Marsch auf der knapp drei Kilometer langen Strecke fast schon wieder am Theaterplatz ankamen, waren die Letzten gerade erst losgelaufen. Wieder zurück am Theaterplatz wurde noch bis in die späten Abendstunden gefeiert.

Un- oder unterbezahlte Care-Arbeit, die Entwertung von Berufen und Disziplinen, in denen vornehmlich Frauen* tätig sind, aber auch das Recht am eigenen Körper und der Schutz vor sexualisierter Gewalt – nicht nur am Arbeitsplatz, all diese Missstände, gegen die Hunderttausende Frauen* am 14. Juni auf die Straße gingen, betreffen Frauen* auch außerhalb der Schweiz. Ich frage mich nun: Wem also nützt das Narrativ der Rückständigkeit überhaupt? Und was wäre, wenn wir uns statt mit irgendwelchen auf nationalen Vergleichen beruhenden Rückständigkeitsannahmen oder Fortschrittsillusionen lieber solidarisieren und gemeinsam streiken? Während wir auf die Umsetzung der Forderungen warten müssen, verlasse ich Basel mit dem Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, deren Verlangen nach Veränderung nicht an Grenzen haltmacht.