Von welchen, die auszogen, sich selbst zu filmen
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Von Hannah Schlüter
Stell dir vor, du bist ein junger, weißer Mann. Du hast gerade Abi gemacht, du weißt aber nicht so genau, wer du bist. Gibt ja viele Möglichkeiten. Du siehst bei Instagram so einen Typen, der mit dem Fahrrad durch richtig viele Länder gefahren ist. Wow, denkst du, wie mutig, krasses Abenteuer, endlich mal eine echte Herausforderung. Das mach ich auch, da erfahre ich bestimmt richtig viel über mich selbst.
Berichte solcher Unterfangen gibt es schon länger in Buchform oder als Diavortrag, mittlerweile auch als Facebook-Event. In Filmform heißen die wirklich schlimmen aktuell „Reiss aus“ und „Expedition Happiness“.
In „Reiss aus“ werden z. B. nur ländliche Dörfer und exotische Landschaftsaufnahmen in Westafrika abgebildet. So schafft man es, rassistische Stereotype von den „schönen, glücklichen Wilden“ zu reproduzieren, die arm und glücklich sind, dann aber doch doll die Natur zerstören und zumüllen, weil sie es nicht besser wissen. Städte fänden sie nicht interessant, sagten die beiden Filmemacher im Gespräch. Nur schade, dass Städte eben auch die Realität Westafrikas sind.
„Expedition Happiness“ hat ein anderes Problem und wird dadurch sogar lustig: Es passiert nichts. Es gibt einen Bus, einen schwitzenden Hund, aber keinen einzigen interessanten Dialog in dem Film. Auch erkenntnismäßig scheint das Reisen mit dem Reisepärchen eher wenig zu machen. Und es irritiert, dass man irgendwie immer Mogli kochen und Felix am Steuer sieht. Aber geiler Bus, echt!
Und eigentlich ist schon vorab klar, was du über dich erfahren wirst, wenn du auf Reisen gehst: Mit deinem deutschen Reisepass bist du überall auf der Welt die geilste Sau – der ist nämlich einer der besten im Reisepassranking, damit kommst du fast überall problemlos hin.
Wenn du hier arm bist, bist du es in vielen Ländern nicht. Das Essen ist dann spottbillig. Ein Problem zu haben und es dann zu lösen, gibt dir das Gefühl, ein Mensch zu sein, der Dinge tun kann, und du fühlst dich wirksam. Die Infrastruktur funktioniert in Deutschland zum Teil wirklich beeindruckend gut. Wir haben ein Händchen für Müll, wir werfen ihn fachgerecht weg. Das Leben findet in Zeit und Raum statt. Überall gibt es eher nette und eher unangenehme Menschen. Die meisten von ihnen brauchen Konstanten in ihrem Leben wie ein Dach über dem Kopf, Grundversorgung mit den lebensnotwendigen Gütern und die Eingebundenheit in eine soziale Gruppe.
Was sie eher nicht brauchen, und das ist jetzt meine ganz subjektive Meinung in Anbetracht der globalen Gesamtsituation: weitere abgefilmte Kalendersprüche-Feelgoodmovies, die so tun, als könnten wir alle einfach losziehen, das Weite suchen und uns woanders abholen, was uns daheim zu bekommen nicht gelingen will.
Wann ist es passiert, dass die Millennials angefangen haben, sogar ihre Persönlichkeitsentwicklung durch Länder des Globalen Südens erledigen zu lassen? Es passt in die Zeit dieser vermeintlich beziehungsunfähigen Generation, dass sie auch die Selbstsuche auslagert: auf Leute in anderen Ländern, mit denen man danach nichts mehr zu tun haben muss. Und ja, ich beichte sofort, denn das muss man in diesen Diskursen ja immer, sonst ist man Plastikgreta oder Langflugluisa: Ich habe auch, so wie viele andere deutsche weiße Mittelschichtskinder, Langflüge gemacht und längere Zeit in anderen Ländern verbracht – Instagram gab es da noch nicht. Ich bin Weltwärtshannah und hatte auch Bock auf was ganz anderes. Da habe ich Erfahrungen gemacht, die mich weitergebracht haben. Vor allem waren das aber die Gespräche und Arbeitserfahrungen in diversen Gruppen. Das hätte überall sein können, das musste nicht Togo sein.
Nicht die Romantik des Unterwegsseins war die Erfahrung, sondern die Auseinandersetzung mit mir und anderen in verschiedenen Situationen. Positiv wie negativ. Das hat mit dem Fragenstellen an sich selbst und andere zu tun. Und das ist nie vorbei, das ist ein Prozess, wie eine Reise. Nur dass man auf der Rucksackreise glücklicherweise immer dann weiterfahren kann, wenn es unangenehm wird.
Und da kommen wir dann beim unsichtbaren Rucksack der Privilegien an, wie ihn Peggy McIntosh so schön passend zum aktuellen Reisehype genannt hat.
Er ist viel nerviger als der schicke Neue vom Globetrotter, der so funktional und robust ist. Der unsichtbare ist der, der ausgeblendet werden muss, weil er dir so penetrant unter die Nase reibt, dass du in einer Welt lebst, in der du leider, mit allem, was du machst, immer auch von einem System der Ungleichheit profitierst, das du dir zwar nicht unbedingt gewünscht hast, dessen Teil du aber bist, egal, wie sehr du es auch drehst und wendest. Ein System, in dem die derzeitigen Lebenssituationen in allen Teilen der Welt so sind, wie sie sind, weil sie aus verschiedenartigen Ausbeutungen von Menschengruppen heraus entstehen konnten – und durch Unterdrückung wegen fehlendem Besitz, ökonomischer und ethnischer Herkunft oder Geschlecht legitimiert werden konnten.
Ein Privileg zu haben bedeutet nicht, dass man sich selbst hassen muss oder nie davon Gebrauch machen kann. Aber es bedeutet, sich zu überlegen, ob der eigene Lifestyle und der eigene Erfolg einfach aus der eigenen Arbeit kommen und wer oder was sie eigentlich möglich macht, auch wenn es angenehmer ist, wenn das unsichtbar bleibt. Es bedeutet zu überlegen, was denn eigentlich woher kommt. Wenn man sich die historischen Traditionen anschaut, in denen man vielleicht mit dem eigenen Reiseverhalten steht, könnte man manche Aspekte des Reisehypes neokolonial nennen.
Es ist ein schmaler Grat, was nicht heißt, dass du dich schuldig fühlen musst und nirgendwo mehr hinfahren kannst. Das heißt nur, dass die Selbstverständlichkeit, mit der du dir Dinge gönnen kannst, längst nicht für alle Leute gleich ist. Was du dann mit dieser Erkenntnis machst, hängt wahrscheinlich davon ab, ob du Lust auf gleiche oder ähnliche Grundbedingungen für alle hast oder nicht.
Und noch einmal: Natürlich ist es ein völlig legitimes Bedürfnis, dass du in Sri Lanka endlich mal Mushrooms essen willst! Aber bitte tu nicht so, als wäre deine Reise eine mutige Errungenschaft, die irgendjemandem außer dir selbst zugute kommt. Mach einfach keinen Film über deine Reise. Wir haben jetzt ein paar, das muss reichen. Die Welt ist erkundet; spätestens seitdem das – natürlich heterosexuelle und weiße – Influencerpärchen, das mit dem Tandem durch Afrika fahren wollte, nur 817 Euro bekam, scheint klarzuwerden, dass die individuelle Reiseerfahrung nicht interessant ist, wenn sie niemanden außer deine Suche nach dem Glück und deinen Selfiestick einbezieht.
Das blöde Ding mit den Erfahrungen ist, dass ein Film zwar eine Ahnung davon geben kann, Leute sie aber wirklich machen und durchleben müssen, damit’s eine Erfahrung wird.
Lasst uns doch den Begriff des Reisens wegholen vom Südostasien- oder Südamerikatrip und die wichtigen Erfahrungen, die wir alle für uns und die anderen machen wollen, dort verorten, wo sie wirklich sind: nämlich überall, wo verschiedene Leute, außerhalb der eigenen Blase, regelmäßig anfangen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch mal zu streiten und sich dann wieder zu vertragen. Diese Offenheit ist eben nicht durch Instagram zu ersetzen oder nur auf den Urlaub zu verlegen. Die Kontrasterfahrung, die du suchst, kannst du z. B. auch finden, wenn du mit deinem nicht-veganen Nachbarn auf einem Stand-up-board durch die Uckermark fährst. Frag ihn mal, ob er Bock hat. Dann wird’s vielleicht sogar politisch.
„Denn man reist doch wahrlich nicht, um an jeder Station einerlei zu sehen und zu hören.“ Hat Goethe gesagt, ein wirklich kluger, weißer, alter Mann.